„Sanierung ist, wenn alles abgerissen wird!“
Die unter der Regie Wolfgang Beckers (diverse „Der Kommissar“-, „Derrick“- und „Tatort“-Folgen) 1977 entstandene Verfilmung des deutschen Kinderabenteuers „Die Vorstadtkrokodile“ von Max von der Grün unterhält Jung und Alt prächtig und versteht es, eine positive Aussage zu treffen, ohne dabei die pädagogische Keule zu schwingen. Zu den dem Kindheitsalter entwachsenen Schauspielern gehören Wolfgang Grönebaum und Marie-Luise Marjan („Die Lindenstraße“) sowie Martin Semmelrogge („Das Boot“).
„Die Krokodile“ sind eine vornehmlich aus Jungs bestehende Kinderbande aus einem Vorort am Niederrhein, die ein Baumhaus unterhält, viel mit ihren Fahrrändern unterwegs ist und neue Mitglieder nur nach einer bestandenen Mutprobe aufnimmt – wie den zehnjährigen Hannes, der auf ein hohes Dach klettern muss und dadurch einen Feuerwehreinsatz auslöst. Denn beobachtet wird die Szenerie vom an den Rollstuhl gefesselten Kurt, mit dem sich Hannes anfreundet und ihn den anderen „Krokodilern“ vorstellt. Dort stößt Kurt aufgrund seiner Behinderung zunächst auf Ablehnung, erweist sich jedoch als intelligenter und aufgeweckter Kerl, der gar nicht so anders als die anderen und ihnen in mancher Hinsicht gar überlegen ist. So hat er beispielsweise einen Einbruch beobachtet und lotst seine neuen Freunde zum Versteck des Diebesguts, wo die „Krokodile“ ihr neues Lager errichten. Und während allgemein angenommen wird, die „Itaker“ wären für den Einbruch verantwortlich, stellt sich heraus, dass Egon (Martin Semmelrogge), älterer Bruder des „Krokodilers“ Frank, mit der Sache zu tun hat…
Temporeich inszeniert unter Begleitung zeitgenössischer Rock- und Popmusik, erzählt „Die Vorstadtkrokodile“ nahezu frei von Kitsch, Pathos und Rührseligkeiten ein Plädoyer für Solidarität und Zusammenhalt sowie das Überwinden von Ausgrenzungen und den Dialog. Seine Authentizität erlangt der Film neben den Originalschauplätzen nicht zuletzt durch die Besetzung mit echten Gören vom Niederrhein, die quatschen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist; Laidendarsteller, die man nicht in enge Korsetts zerrte, sondern befreit aufspielen ließ. Zudem bleibt der erhobene Zeigefinger in der Tasche. Gefährliche Mutproben werden durchgeführt, die von den Erwachsenen zwar verurteilt werden, hingegen kaum negative Folgen für die Kinder nach sich ziehen. Ein Hausarrest wird übertreten, die Kinder laben sich ausgiebig am Wein, die Eltern rauchen noch in Anwesenheit des Nachwuchses in der Wohnung und die Sprache ist noch nicht durch politisches korrektes Neusprech ersetzt worden. Scheint „Die Vorstadtkrokodile“ anfänglich noch Vorurteile gegen italienische Einwanderer in den Fokus rücken zu wollen, findet dieses Thema zwar nur am Rand statt, ist aber dennoch allgegenwärtig – ohne dabei die Italiener zu verklären, denn aus heutiger Sicht, mit heutigen Sehgewohnheiten im Hinterkopf, ist es überraschend, dass man diese tatsächlich als Langfinger darstellt. Das würde alles so heutzutage nicht mehr gedreht werden, schon gar nicht als ein Kinderfilm. Niemand hatte hier die Nachahmungsgefahr überbewertet, stattdessen wurde noch auf die Eigenintelligenz des Publikums vertraut.
Bemerkenswert auch das Frauenbild des Films: Während sich erwachsene Frauen i.d.R. als Hausmütter verdingen, ist „Krokodilerin“ Maria, das einzige weibliche Mitglied, bereits reifer und sichtlich weiterentwickelt als der Rest der Bande, größer als die meisten anderen und nimmt eine durchaus dominante Rolle ein. In einer Szene, in der sich die Jungs zu sehr schämen, Kurts Hose zu öffnen und ihm beim Wasserlassen zu helfen, tut sie das mit einer Selbstverständlichkeit und entlarvt die Jungs damit als verunsichert und verklemmt. Ironischerweise wird Kurt von einem burschikosen Mädchen gespielt, dürfte daher in dieser Szene gedoublet worden sein. Generell zeigt der Film, dass Ablehnung und Ausgrenzung häufig aus Desinformation und Verunsicherung resultieren und man lässt die „Krokodiler“ auch bandeninterne Meinungsverschiedenheiten ausfechten, die Argumentationsstrukturen der Erwachsenenwelt aufweisen und eine Reflektion ihrer sind. Zudem arbeitete man das Konfliktpotential resultierend aus hoch angesehen, einflussreichen Bewohnern, ihrer privilegierten Behandlung und der Angst vor negativen Folgen nach Auseinandersetzungen mit ihnen in die Handlung auf kritische Weise ein.
Mit seiner Unbedarftheit wirkt „Die Vorstadtkrokodile“ auch – oder gerade – heute sehr erfrischend. Zeitgenössisch und dabei modern finden damals aktuelle Themen Einzug in eine wiederum zeitlose Geschichte, die es in unzähligen Varianten zu erzählen gibt, hier aber besonders gelungen umgesetzt wurde. Diese besondere Zeit der Präpubertät, die Zeit der nicht immer kindgerechten, großen Abenteuer, die dem eigenen Leben starke Impulse auf dem Weg zum Erwachsenwerden verleihen können, die Becker stattfinden lässt in einem Zeitabschnitt, als Kinder noch selbstbewusst auf der Straße herumtollten, Baumhäuser bauten und sich zahlreichen Gefahren aussetzten, die sie kraft ihrer Gemeinschaft meist selbst durchstanden, weiß jeden, der selbst einmal Ähnliches erlebt hat, zu überzeugen und löst möglicherweise sogar etwas Wehmut aus. Aber nur ein bisschen.
P.S.: War dies evtl. der erste deutsche Spielfilm, in dem Skateboards auftauchten?