Review

Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete,
hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnender Erz oder eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte,
hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.
Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe,
hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts. (…)
Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden. Wenn aber das Vollkommene kommt, vergeht alles Stückwerk. (…) 


                                                                 - Das "Hohelied der Liebe", Erster Brief des Paulus an die Korinther


Yu ist ein 17-jähriger Oberschüler. Seine Mutter starb, als er noch klein war. Sein Vater schlug daraufhin die Priesterlaufbahn ein und verbitterte. Die Aufmerksamkeit seines Vaters erkämpft sich Yu, durch das stetige Begehen von immer moralisch verwerflicher werdenden Sünden. Dabei stößt er zufällig auf seine Passion: er fotografiert Frauen heimlich unter den Rock. Auf einem Streifzug mit seinen gleichgesinnten, fotografierfreudigen Kumpels stößt er auf die junge, bildhübsche Schlägerbraut Yoko, die es gerade mit einer ganzen Gang aufnimmt. Yu hilft ihr aus der Patsche und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Dumm nur, dass er bei dieser Begegnung als Frau, besser gesagt als die 70er-Jahre-Ikone Sasori, verkleidet ist. Aus diesem Grund erkennt Yoko ihren Wohltäter auch nicht, als sie am nächsten Tag in Yu’s Klasse versetzt wird…

Soweit die ersten 60 Minuten des in voller Länge beinahe vier Stunden dauernden Filmmonstrums. Erst jetzt erfolgt die Einblendung des Titels: LOVE EXPOSURE – Peng! Was folgt, ist ebenso abstrus wie der Auftakt:
- Yu’s Priestervater heiratet Yokos Ziehmutter
- Yu und Yoko sind somit Stiefgeschwister
- Yoko findet Yu abstoßend und hält ihn für einen Perversen
- Yu verkleidet sich immer öfter als Sasori, um Yoko nahe zu sein
- Yoko gerät in die Fänge der fanatischen „Zero“-Sekte
- Die Anführerin der Sekte fängt ein lesbisches Verhältnis mit Yoko an
- Yu versucht Yoko aus den Klauen der Sekte zu befreien

Dies die Handlung nur im Groben. Den kompletten Plot wiederzugeben, würde zu weit führen, und wäre auch ein Ding der Unmöglichkeit. Ebenso schwer lässt sich sagen, mit welcher Art von Film man es hier überhaupt zu tun hat. LOVE EXPOSURE beinhaltet Elemente des Dramas, der Komödie, des typisch japanischen Bizarr-Kinos wie wir es von Takashi Miike kennen, auch wird es mitunter sehr brutal, einige heftige Blutbäder inklusive und man bekommt eine der fiesesten Kastrationen der Filmgeschichte geboten… – also sozusagen ein Roundhouse-Kick durch jedes Genre.
Hauptsächlich geht es aber doch wohl doch um Teenager-Liebe, die Entdecken und Erforschung der Sexualität, Frustration, Zurückweisung und darum, wie blind und verrückt das Verliebtsein macht.
Ein weiteres großes Thema des Films ist Religion. Diese steht im groben Kontrast zu Liebe und ihrer Auslebung, verbietet beides praktisch, weil es ja Sünde ist. Die Gleichung lautet deshalb: 

                                     Liebe = Sex = Sünde

Yu glaubt an diese ihm von seinem Vater eingetrichterte Formel und schämt sich deshalb für seine Gefühle gegenüber Yoko.
Doch ist Liebe wirklich gleich Sex? Und muss denn Liebe Sünde sein? Genau da begibt sich der Film auf philosophisches, ja: theologisches Terrain, was jeden Zuschauer mit der Vorliebe für Kopfsport überaus beglücken dürfte.

Unkonventionelle oder extreme Formen der Liebe, wie z.B. lesbische Liebe, Travestie, Selbstbefriedigung und Höschen-Fotografie, stehen hier in gewisser Weise extremen Ausübungsformen der katholischen Kirche (Sektenbildung, ein Priester, der heimlich das Zölibat bricht) gegenüber.
Wie Regisseur Shion Sono darüber denkt wird ansatzweise klar, wenn er behauptet: „(Für mich ist) Religion auch nur eine andere Art von Perversion.“


Du hast mir das Herz geraubt,
ich bin eine Höhle,
eine riesige Höhle.
Ein dummes Kind läuft durch mich durch.
Ich bin eine Höhle,
eine riesige Höhle.
Na los! Versuch ruhig in durch das Loch zu schlüpfen,
bitte sehr,
in die Höhle!
 

                                                                                                – deutsche Übersetzung des Titelsongs "Kûdô desu"


Die früheren Filme von Shion Sono, wie z.B. SUICIDE CIRCLE, STRANGE CIRCUS, spalteten die Massen. Die einen feierten die schrägen Kopfgeburten, die anderen verteufelten sie als die langweiligen Hirngespinste eines Perversen. Mit LOVE EXPOSURE überzeugt uns der obskure Japaner endlich vollends von seinem Können. Der Film passt in keine Schublade, ist irre witzig und niederschmetternd traurig in einem. Seine großen Momente hat er genau da, wo er es umgeht, sich in Gefühlsduselei zu verlieren, sondern Emotion mittels visueller Gewandtheit und Metapher-artigen Bildern auf den Punkt bringt. Und – und das ist fast die am schwersten gewichtende Meisterleistung – trotz seiner Länge von fast vier Stunden wird er wirklich zu keiner Sekunde langweilig, was wohl daher kommt, dass der Streifen unvorhersagbar wie ein Amoklauf ist. Poppig unterhaltsam, gleichzeitig aber gefühlsbetont und tiefschürfende Fragen stellend. Einziger Minuspunkt ist, dass er beinahe etwas „too much“ ist für die Aufmerksamkeitsspanne des armen Zuschauerhirns, welche mittlerweile auf die Kürze eines Werbespots geschrumpft sein dürfte. Die Länge allein stellt also durchaus eine Herausforderung dar. Eine Herausforderung aber, der man sich als experimentierfreudiger Filmfreund unbedingt stellen sollte.


„Jesus, vergib diesen Vollidioten!“

Fazit:
All You Need Is Love! Ein katholischer Liebesfilm. Drama, wie Komödie. Zeigt sowohl die Schwerelosigkeit, die einem die Liebe verleihen kann, als auch die bleierne Schwere, wenn sie einem versagt wird. Ein kurzweiliges Epos, ebenso wie ein monumentales Stück Popcorn-Kino.
Wirklich sehr, sehr großartig.



PS:
Der Film wirbt gleich zu Beginn damit auf wahren Begebenheiten zu beruhen. In den Extras der DVD klärt Regisseur Sono darüber auf. Er hatte einst einen Bekannten, der Dame gerne unters Röckchen fotografierte. Dessen Schwester verfiel einer Sekte, aus deren Würgegriff er sie befreien konnte. Mehr Wahrheitsgehalt enthält LOVE EXPOSURE allerdings nicht. Wäre auch kaum gegangen.

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