Aus der Sicht Deutschlands verkommt der Krieg zwischen Japan und China, der schon 1937 begann und bis zum Ende des 2.Weltkrieges andauerte, zu einer Fussnote. Zwar hatte Deutschland zu China gute Beziehungen, aber der Bündnispartner Japan war wichtiger, weshalb sich die Nationalsozialisten erst aus dem Konflikt heraus hielten und später folgerichtig für den japanischen Aggressor Partei einnahmen. Das mit John Rabe ausgerechnet ein Deutscher, dazu noch Mitglied der NSDAP und Geschäftsführer von "Siemens" in China, in den tragischen Höhepunkt des Konflikts, dem als "Nanking Massaker" bekannt gewordenen Mord an ca. 300.000 Chinesen, hinein gezogen wurde, war eher Zufall und geriet ausserhalb Chinas schnell in Vergessenheit.
Auch John Rabe selbst, der verantwortlich eine Schutzzone für Zivilisten innerhalb Nankings leitete, die bis zu 250.000 Menschen zeitweise aufnahm und damit viele weitere Tötungen verhinderte, profitierte nicht von seinen Taten. Die Nationalsozialisten unterbanden Vorträge darüber, wegen der Vorwürfe an die Japaner und selbst die Alliierten wussten nichts davon, weshalb sie lange seine Entnazifizierung verweigerten. Erst als viele Jahre nach seinem Tod seine Tagebücher wieder entdeckt wurden, begann man diesen Teil der Geschichte aufzuarbeiten. Wenn jetzt ein Film über diese Ereignisse in Nanking in die Kinos kommt, dann hat das nicht nur Bedeutung für die Person John Rabe, sondern bringt ein Kriegsverbrechen in das kollektive Bewusstsein, dass noch nicht verarbeitet wurde. Gut auch daran zu erkennen, dass Japan seine Schuld an dem Völkermord bis heute nicht eingestanden hat.
Der Film ist als französisch-chinesisch-deutsche Koproduktion entstanden, kann mit sehr guten Darstellern aufwarten und ist von professionellster Machart. In China gedreht und von sehr guten Computeranimationen unterstützt, entwirft der Film ein authentisch wirkendes Szenario, dass vor drastischen Bildern nicht zurückschreckt. Angesichts der Massenhinrichtungen, abgeschlagenen Köpfen und Leichenbergen inmitten einer zerstörten Umwelt, lässt der Film keinen Zweifel an den hier geschehenen Gräueltaten und versucht diese in die Geschichte über den Menschen John Rabe und seine wichtigsten Mitstreiter, den englischen Arzt Robert Wilson (Steve Buscemi), den deutschen Diplomaten Rosen (Daniel Brühl) und die französische Leiterin des Mädchenheims Valérie Dupres (Anne Consigny) einzugliedern.
Trotz einer Laufzeit von mehr als zwei Stunden kommen vielschichtige Charakterzeichnungen angesichts der Fülle der Ereignisse etwas zu kurz, weshalb es vor allem den schauspielerischen Leistungen zu verdanken ist, den Menschen hinter den Taten spüren zu lassen. Ulrich Tukur bekommt als Protagonist die meiste Gelegenheit dazu, eine Person zu verkörpern, die - obwohl ein konventionell denkender deutscher Fabrikleiter, der weder den Nationalsozialismus noch Adolf Hitler in Frage stellte - angesichts unmenschlicher Gräuel zu Taten griff, die sich seinem humanen Geist geradezu aufdrängten. John Rabe ist weder ein geborener Held noch ein besonders sozial denkender Mensch, aber er spürte das Unrecht und eine Menschenverachtung hinter den Taten, die ihm persönlich trotz aller vorhandenen Arroganz fremd waren.
Die Vielschichtigkeit, mit der Tukur seine Rolle anzulegen versucht, um einerseits die Bedeutung der Person John Rabes hervorzuheben, ihn andererseits aber auch nicht zu heroisieren, ist dem gesamten Film anzumerken. Fast körperlich ist die Ausgewogenheit zu spüren, der jede Szene unterliegt, als ob man der Komplexität der Ereignisse nicht traut. Um nicht in den Verdacht zu geraten, den Nationalsozialismus zu positiv zu bewerten, wird mit Werner Fliess (Matthias Herrmann) ein besonders unangenehmes Exemplar als Rabes Nachfolger als Firmenleiter vorgestellt, der die Fabrik nur abwickeln will und sich erst feige verdrückt, um am Ende noch die Lorbeeren einzuheimsen. Den Zwiespalt, dass die Flagge der Nationalsozialisten Menschenleben rettete und John Rabe nicht zuletzt deshalb, weil er Deutscher war, an der Spitze der Leitung der Sicherheitszone stand (man versprach sich davon mehr Einfluss auf die Japaner), traut sich der Film nicht konsequent auszuleben.
Ähnliches gilt für die japanischen Kriegsverbrechen. Angesichts der knallharten militärischen Disziplin, die in Japans Armee herrschte, ist eine Figur wie der milchgesichtige Offizier, den das schlechte Gewissen plagt, und der letztlich sogar zur Rettung der Menschen in der Sicherheitszone beiträgt, schwer vorstellbar. Ganz offensichtlich wollte man eine zu einseitige Darstellung der Japaner vermeiden, was auch Rückschlüsse auf die nach wie vor vorhandenen Empfindlichkeiten zulässt. Auch wenn die Tötung von Soldaten schrecklich genug sind, so sind es vor allem die planmässigen Erniedrigungen eines Volkes, die sich in den Massenvergewaltigungen zeigten, die das kollektive Bewusstsein noch lange beherrschen. Dieser Punkt wird von dem Film nur angedeutet und bekommt in der einzigen konkreten Situation noch dazu ein vorgeschobenes Happy-End. Das muss keineswegs nur aus Rücksicht auf die Japaner so gestaltet worden zu sein. Auch die chinesischen Co-Produzenten wollten sich eine erneute Erniedrigung ersparen, wie es überhaupt auffällt, dass das chinesische Volk hier zwar stark mitgenommen, aber nie geschlagen wirkt.
Aus diesem Grund lässt der Film den Betrachter trotz der unglaublich schrecklichen Vorgänge seltsam unberührt. Die Vermeidung jeglicher geschürter Emotionen verhindert eine echte Anteilnahme und die wenigen Momente, in denen menschliche Gefühle zu spüren sind - wie etwas der Moment, als die französische Heimleiterin Valérie Dupres den totkranken Rabe berühren will - sind viel zu selten. "John Rabe" ist sicherlich ein notwendiger Film, der von vielen Menschen gesehen werden sollte, aber gerade die Vielschichtigkeit, die hinter diesem Geschehen verborgen ist und die sowohl zu den tötlichen wie auch zu den humanen Taten führte, kann der Film nur selten erfahrbar werden lassen (7/10).