Als Cineast hofft man stets auf ein perfektes Kinoerlebnis, ein Film, der einem von der ersten Minute an gefangen nimmt, wo man sofort weiß, es einfach spürt, dass man hier etwas Großes erlebt und die nächsten zweieinhalb Stunden dieses Gefühl nur noch intensiver wird; wenn man aus dem Kino kommt und die vertraute Umwelt plötzlich in einem anderen Licht erscheint, man morgens aufwacht und das erste, woran man denkt, dieser Film ist – und man das alles nicht mehr vergessen kann.
Wider all meinen Erwartungen war Michael Manns „Ali“ ein Erlebnis jener seltenen Art. Es mag sein, dass gerade die niedrig gesteckten Erwartungen meine große Begeisterung erst ermöglichten. Doch es wäre dem Film gegenüber absolut ungerecht, diesem Aspekt viel Bedeutung zukommen zu lassen. Denn „Ali“ besitzt eine Unmenge an filmischen Qualitäten.
Bereits der hier im Forum oft gelobte und gut beschriebene Anfang zieht den Zuschauer in den Film hinein und zeigt vieles von dem auf, was ihn so meisterhaft macht: die Kameraführung, der Schnitt, die musikalische Untermalung und Exposition, wie sie konzentrierter nicht sein könnte.
Gleich nach dem berauschenden Einstieg kommt ein Boxkampf.
Die Kamera ist dabei - wir sind dabei.
Authenzität und das Gefühl, alles selbst mitzuerleben, das ist es, was Kameramann Emmanuel Lubezki geschaffen hat – und nicht nur bei den Kämpfen. Jede Sekunde scheint authentisch. Doch ist der Film von keinem aufgesetzten pseudo-dokumentarischen Stil bestimmt. Vielmehr gelingen der Inszenierung künstlerich brilliante, nicht selten auch extrem magische Szenen.
Allein die Kameraeinstellung bei der Szene, in der Malcolm X von seiner großen Wut erzählt, konnte man besser nicht wählen. Wir sehen sein Gesicht in einem Close-Up auf der linken Seite des Bildes und Ali (nur verschwommen) auf der rechten Seite im Hintergrund sitzen. Obwohl es nur ein Monolog ist und wir Alis Mimik nicht erkennen, werden große Emotionen erzeugt und gleichzeitig wissen wir genau, was in Ali vorgeht. Denn unsere eigenen Empfindungen interpretieren wir in sein verschwommenes Gesicht. Das Ganze hat auch eine Spiegelfunktion: weil wir wissen, wie Ali den Monolog aufnimmt, wirkt er auf uns umso emotionaler.
Kompliziert, wenn man versucht es zu erklären, doch absolut wirksam im Film. Zudem weist die Szene auf eine Stärke von Michael Mann als Regisseur hin, dass er uns nämlich nichts aufzwingt, selbst diese Schlüsselsequenz für Ali nicht. Er versteht es, nur durch Andeutungen seinen Charakteren Tiefe zu verleihen. Wenn man das erkennt, dann funktioniert sein Film wunderbar.
Als dann Malcolm X erschossen wird, folgt einer der bewegendsten Momente. Ali sitzt im Auto und hört die Nachricht, und man sieht nicht nur seine Tränen, sondern auch die anderer Farbiger auf der Straße, wodurch besonders klar wird: „Ali“ erzählt nicht nur die Geschichte des Boxers, es ist auch die der Farbigen und somit der Vereinigten Staaten.
Die größte Gänsehaut aber hatte ich, als Ali durch Zaire joggt, kurz vor dem finalen Boxkampf, und er von jubelnden Afrikanern begleitet wird. Plötzlich stehen sie vor einer Wand, an der Zeichnungen sind: Ali als Held des Volkes, Ali bumaye! Die Afrikaner jubeln noch lauter, und in Alis Augen spiegelt sich auf einmal Erkenntnis wieder, die Erkenntnis, dass es hier um mehr als einen bloßen Boxkampf geht. Die Kamera gleitet, wie als wäre sie Alis Blicke, über die Zeichnungen und über all dem ertönt eine Musik von atemberaubender Schönheit und Stärke. Dieser Kinomoment hat mich überrannt, es war Magie und Film in seiner Perfektion.
Will Smith als Muhammad Ali ist eine Präsenz, die den Zuschauer absolut für sich einnimmt. Im Vordergrund seiner Darstellung stehen nicht nur das Großmaul Ali, dass seine schlagfertigen Sprüche von sich gibt. Es ist das ernste, nachdenkliche Gesicht, mit dem Will Smith zu überzeugen weiß.
Einige Kritiker meinen, dass der Film gegenüber Ali nicht kritisch genug ist, besonders in Bezug auf seine Sprüche. Dem muss ich widersprechen. Die Kritik macht der TV-Journalist Howard Cosell aus. Er bewundert Ali, doch sein eindeutig gekränkter Gesichtsausdruck, wenn Ali ihn vor laufender Kamera oder anderen Journalisten beleidigt, ist ein kritischer Blick auf den Boxer (allerdings versucht Cosell die rufschädigenden Bloßstellungen sich nicht anmerken zu lassen, was Jon Voight sehr gut darstellen kann).
Meiner Meinung nach kann man diese Haltung auf den ganzen Film übertragen. Er bewundert seine Hauptfigur, ohne die negativen Seiten zu verheimlichen. Denn eines ist „Ali“ ganz sicher nicht: eine oberflächliche Glorifizierung.
„Ali“ ist ein Film mit Größe, bei dem die Montage von Kamera, Schnitt und Musik makellos ist und der mir mehr gibt als jene knochentrockenen Geschichtsbücher, die uns von der Schule vorgesetzt werden. „Ali“ ist Geschichte zum Miterleben. „Ali“ hat so viele schöne und bewegende Momente, wie ich sie schon lange nicht mehr im Kino erleben durfte.
Ich verbeuge mich vor Will Smith, der spielt, als wäre er ein Altmeister. Einen solchen Film muss man gesehen haben.