1816 treffen sich Mary Wollstonecraft, ihr Geliebter und zukünftiger Gatte Percy Shelley und ihre Halbschwester Claire Clairmont mit dem exzentrischen Freigeist Lord Byron und dessen Hausarzt Polidori auf seinem Schweizer Anwesen Diodati, das ihm als Exil dient. In einer Sommernacht beschließen alle fünf, je eine Horrorgeschichte zu schreiben. Es entstehen (unter anderem) aus Polidoris Feder das Vorbild für Dracula, "Der Vampyr", und natürlich das schwarzromantische "Frankenstein". Wie konnte eine Nacht eine solche Fantasie freisetzen?
Ken Russell hat ein äußerst interessantes Experiment gewagt: In seiner Version dieser Geschichte entfaltet sich auf historisch recht korrekter Basis ein schwelgerischer, wahnwitziger Bilderrausch, der sich noch am ehesten mit Coppolas Dracula vergleichen lässt.
Sämtliche Charaktere sind stark überzeichnet: Byron nimmt die Züge eines satanischen de Sade an, während Claire seine ständig erregte, halb entrückte Maitresse darstellt. Shelley ist ein manisch-depressiver, zwischen Liebe und Todesangst schwankender Dichter, während Mary als eher in sich Verschlossene noch die normalste des Quintetts ist. Polidori setzt dem Ganzen die Krone auf: Er ist ein fanatischer Katholik, der sich seelisch (und schließlich körperlich) für seine unterdrückte Homosexualität geißelt und an Wahnausbrüchen leidet.
Obwohl Russell viele Tatsachen hat einfließen lassen (z.B. das Hinken Byrons), wird deutlich, dass er keine realistische Nachspürung der Geschehnisse jener Nacht im Sinne hat. Nein, er möchte eine fiebrige, schwere, schwülstige und finstere Atmosphäre heraufbeschwören, aus deren Schrecken sich als Folge die berühmten Geschichten kristallisierten. Unter dem Einfluss von Laudanum und dem Abhalten einer Séance erwachen die furchtbarsten Ängste der fünf armen Seelen zum leben und verfolgen sie die gesamte sturmgepeitschte Nacht hindurch. Es entsteht nicht nur ein grandioser surrealer Bildersturm, der seinesgleichen sucht, sondern auch eine schwarzromantische Stimmung, die der in Mary Shelleys "Frankenstein" nicht unähnlich ist. Die Angst vor dem Tod und die gleichzeitige Faszination durch ihn, das stürmische Verlangen nach Liebe und das Aufbäumen gegen die allein göttliche Schöpfungskraft sind Kernelemente der bekannten Geschichte, die auch in Gothic eine zentrale Rolle spielen. Dazu kommen viele Anspielungen wie das Ding, das in den Schatten lauert, den elektrischen Strom als Lebensspender und das tot geborene Baby Marys, das sie so gerne wieder lebendig sehen würde.
Doch auch der "Vampyr" kommt nicht zu kurz: Polidori ist fasziniert von Blutegeln, während Byron sie hasst. Diese Darstellung spielt nicht nur auf Polidoris zukünftige Geschichte, sondern möglicherweise auch auf die zukünftige Feindschaft der beiden an. Byron selbst nimmt im Film manchmal die Züge eines Vampirs an, eine Parallele zum blutgierigen Lord Ruthven aus Polidoris Geschichte, der Byrons Züge trägt. Zudem schleicht in Gothic eine weitere blutsaugende Kreatur durch die schattigen Gänge des Anwesens.
Dazu kommen noch unzählige weitere groteske Ausformungen einer äußerst lebendigen Fantasie: Nachtmahre, schleimige Dämonen, Geisterritter und Brüste mit Augäpfeln statt Brustwarzen erwachen in dieser Nacht zum Leben und stürzen den Zuschauer in einen aufregenden Fieberwahn. Ja, "Brüste mit Augen" ist tatsächlich kein Fehler. Noch ein paar andere freizügige Skurrilitäten fährt Russell hier auf, die sich allerdings stets sehr gut in die Atmosphäre einfügen, wenn auch ihre Relevanz für die Geschichte nicht immer klar ist.
Mit dem perfekt eingepassten Soundtrack von Thomas Dolby und den grandiosen Schauspielern (Gabriel Byrne sticht besonders hervor) vereinigt sich die visuelle Gewalt von Gothic zu einem zutiefst beeindruckenden und stimmungsvollen Trip, der zwar alles andere als realistisch ausfällt, doch dafür die fiebrige Atmosphäre von "Frankenstein" bemerkenswert gut einfängt. So seltsam das Ergebnis von Ken Russells Experiment auch ausgefallen ist, so geglückt ist es.