Review

„Gothic“ ist für mich ein sensationeller Horrorfilm, der überhaupt nicht in irgendein Klischee passen möchte (außer, ein Ken Russel-Film zu sein).
Erzählt wird uns ein eher handlungsarmer Plot. Mary Shelley nebst Verlobtem und Cousine Claire sind zu Besuch bei Lord Byron. Auch anwesend ist Dr. Polidori. Dieses Trüppchen ist schon exaltiert genug, legt aber noch einen drauf, indem man sich von Beginn an dem Alkohol hingibt und Opiate konsumiert. So werden schnell die erotischen Spannungen in der Gruppe freigelegt. Sex alleine reicht nicht, deswegen müssen neue Kicks her. Das Erzählen von Gruselgeschichten reicht bald auch nicht mehr. Da holt der gute Lord einen Schädel hervor, den sein Gärtner gefunden hat. Mit ihm wird eine Geisterbeschwörung veranstaltet, die sich als echt nach hinten losgehend herausstellt. Nicht, dass es irgendwelche Geister gäbe. Das Problem der Seance ist, dass jeder seine Ängste und Triebe, die sich durch den Drogenkonsum verstärkt haben, freisetzt und an diesen zu sterben droht.
Es stirbt am Ende aber gar keiner. Mary Shelley hat durch diese Nacht einen Einblick in ihr kommendes Schicksal bekommen und beschließt, ihren Roman über Frankenstein zu schreiben.
Ich gebe zu, dass die Inhaltsangabe so klingt, dass kein echter Horror-Freak sich die Finger nach diesem Film abschleckt. Das ist aber absolut falsch. Russel liefert hier einen exzellenten Albtraum ab, der filmisch auf höchstem Niveau umgesetzt ist. Von Anfang an lebt der Film von der surrealen Umgebung in Byrons Schloss, dass voll gestopft ist mit Kuriositäten. Und jedem seinen personenbezogenen eigenen Schrecken vorhält. Der Film ist nicht gewalttätig, schon gar nicht blutrünstig. Trotzdem zerrt er stark an den Nerven. Die unterschwellige Erotik strömt aus allen Poren, obwohl auf explizite Sexdarstellungen verzichtet wird. Hier zeigt Russel sein ganzes Können.
Den Schauspielern wird viel abverlangt. Byrne (Byron) und Richardson (Mary Shelley) liefern eine solide Leistung ab. Julian Sands kann als Shelley weniger überzeugen. Sehr gut ist dafür Claire gespielt (Myriam Cyr), die aber noch um Welten von Timothy Spall als Dr. Polidori getoppt wird. Spall symbolisiert die Metamorphose der Personen optimal. Zu Beginn unglaublich nervig und affektiert exzentrisch verfällt er vor den Augen der Zuschauer in ein sich seinen Ängsten und Lüsten hingebendes Wrack.
Das einzige, was mich an „Gothic“ stört, ist das Ende. Dort wird von dem Morgen nach dieser Nacht in die Gegenwart übergeblendet, in der das Schloss von Byron eine Touristenattraktion ist und man von einem Tourguide erfährt, wie das weitere Schicksal dieser Fünfergruppe gelaufen ist. Da hätte man sich etwas Besseres einfallen lassen können.
„Gothic“ ist unstrittig großes Kino mit viel Anspruch, das trotzdem funktioniert und unterhält (dieser Punkt geht mir als zu oft verloren, da sich Unterhaltung und Anspruch auszuschließen scheinen). Der Film ist all denen unbedingt zu empfehlen, die einen Horror abseits des Slashers erleben wollen. Manchmal ist „ohne Blut“ grausiger als „nur Blut“. Für mich 9 von 10 Punkten.

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