Eine graubraune Welt; ein vernachlässigtes, einsames kleines Mädchen, ein von Freßsucht und psychischen Zwängen heimgesuchter Mann mittleren Alters - es sind die Zutaten eines finsteren Melodramas, die ins Auge fallen, wenn man sich allein die Inhaltsangabe von Adam Elliots "Mary and Max" durchliest.
So etwas wird im Realfilm gern ausgeschlachtet; zwei Menschen, die durch alle Täler des Lebens gehen und nur ihre Freundschaft haben und schließlich die böse Welt überwinden.
Doch Elliots Film ist kein Sonntagabendschmachtfetzen und er bietet keine Erlösung an; auf Regen folgt kein Sonnenschein am Ende, stattdessen tun sich immer größere Abgründe auf, versinken die Figuren in immer neuen Problemen, ist nichts sicher und nicht heiter. Und was er vor allem ist - er ist animiert.
Was als Realfilm vermutlich als vollkommen übertriebene Schmonzette geendet wäre, die in düsteren Übertreibungen ein "Nun hört aber auf!"-Gefühl provoziert hätte, ist als Plastilin-Knetfilm eine emotionale Wundertüte von größerem Kaliber. Wo Firmen wie Pixar kunterbunte und originelle Oden an die Freuden und das Leben komponiert, hat Elliot sich ein Herz für die Gebeutelten bewahrt und präsentiert sie in unnachahmlicher Häßlichkeit.
Mary - das ist ein bebrilltes achtjähriges Mäuschen mit einem braunen Fleck auf der Stirn, vernachlässigt von der alkoholverliebten, kleptomanischen Mama und dem kaum präsenten Vater, ohne Freunde, stets gehänselt im braunen Australien des Jahres 1976.
Max - das ist ein 44jähriger psychisch angeknackster Fettkloß aus dem grauen New York mit sozialen Defiziten und ohne Fähigkeit, zwischenmenschliche Kontakte zu knüpfen, während er seinen Zynismus über den Dreck der Welt mit Freßorgien niederkämpft.
Und diese beiden Menschen finden durch Zufall zu einer Art Brieffreundschaft, durch die Entfernung getrennt und damit einmal frei und unabhängig, alles zu sagen und alle Gefühle herauszulassen.
So entwickelt sich Elliots Film auch zu einem Konversationsstück via Brief, die Figuren reden fast nie, stattdessen finden sie nur über die Briefe eine Stimme und den Rest erklären ein auktorialer Erzähler mit warm-verbindlicher Stimme und die Bilder an sich.
Durch die Wahl der Animation als Darbietungsform haben Elliot und sein Team größere Entfaltungsmöglichkeiten, die Schwere des Plots mittels der Bilder und der generellen Absurditäten des modernen Lebens zu konterkarieren, aus dem finsteren Abgrund Realität wird ein bizarr-grotesker Bilderreigen, der irgendwo zwischen Monty Python, Woody Allen und Bergmanscher Tragik anzusiedeln ist.
Die Folge: man ist den halben Film am Schlucken, möchte meistens heulen, was aber nicht geht, weil Voice-Over, Bilder und Figuren wiederum schreiend komisch sind. Und das ist an sich schon eine Leistung, denn wo sogar Nick Park ("Wallace and Gromit") auf eine gewisse Niedlichkeit setzen, entfesselt Elliot ein Pandämonium an menschlicher Häßlichkeit. Geradezu groteske Karikaturen von Menschen wandeln da durchs Bild und sind doch nur leichte Übertreibungen von tatsächlichen Charakteren, wie man sie überall findet. Max ist eine wulstlippige Tonne, die ständig Schokoladensandwichs frißt, um die Lebensängste zu bekämpfen, die durch sein Asperger-Syndrom (wird erst im Laufe des Film diagnostiziert) verursacht werden. Mary dagegen ein pummeliges Brillenschlängelchen, das unförmig gebaut meistens in der richtigen Absicht das Falsche tut.
Und auch die übrigen Figuren übertreffen sich praktisch in der perfekten Überzeichnung, die abgetakelte Tuschkastenmutter, das graue mißmutige Vaterlein, der beinamputierte Nachbar, die seltsamen Leute auf der Straße, die dickbusige Mutti aus der Weight-Watchers-Gruppe. Doch wo die Häßlichkeit regiert, beginnt der Zuschauer eben schneller, auf Nuancen zu achten und dabei fällt dann auf, daß die Macher durchaus das Liebenswerte in ihren Figuren gesehen und hervorgehoben haben, es springt dem Publikum nur nicht ins Gesicht.
Und so muß man also gemeinsam mit den potthäßlichen Figuren in aller Lebensnähe bittererweise auf Zeitreise, über die Schulzeit durch die 80er. Mary wird irgendwann älter, erwachsener, verliebt sich, macht sich, heiratet, wird Akademikerin. Max stagniert, auch wenn seine Krankheit diagnostiziert wird, doch ein Lottogewinn verändert auch für ihn vieles und dennoch bleibt vieles, wie es ist.
Der Weg durchs Leben ist ein gallebitterer und Rückschläge gibt es, gerade für Außenseiter mehr als genug, immer wieder schlägt also das Schicksal zu, die vollen zwei Jahrzehnte: die Schönheits-OP wirkt nicht, der Mann geht fremd, die mißverstandene Krankheit führt zu einer Einweisung inclusive Elektroschocktherapie, die Ängste bleiben bestehen, verschenktes Geld wird veruntreut. Doch die Botschaft des Weitermachens wirkt, die lose, manchmal sehr fragile und brüchige Freundschaft zwischen zwei Menschen, die sich nie begegnen funktioniert, am Tiefpunkt kommt immer wieder die Wende und der Kommentar zum Zeitgeschehen und zum menschlichen Wesen bleibt beißend, schwarz und säureartig.
Und dennoch hat man die Figuren, fast alle, einfach gern, wie sie versehentlich ihre Goldfische pürieren, im Regen stehen, Tränen vergießen und sich betrinken, absurdes Zeug dem Gegenüber schreiben und erzählen, verrückte Theorien anrühren und bizarr aus dem Leben scheiden (als besondere Kuriosität sei Max' imaginärer Freund genannt, der durch die Therapie dazu verdonnert wurde, nur noch in der Ecke zu sitzen - bis er dort so viele Selbsthilfebücher gelesen hat, daß er, selbstständig geworden, Max verläßt!).
Kommentar und Bilder sind eine enorme und abgründige Fundgrube aus kleinen Ideen, feinen Beobachtungen und tollen Details, stets gibt es etwas Neues zu entdecken, daß entgegen der allgemeinen Stimmung läuft (so z.B. die wiederholten Grabsteininschriften, die den traurigen Ereignissen auch den letzten ernsten Zahn ziehen). Elliot hat eine düstere, dreckige Pracht in Szene gesetzt, ein penibles Panoptikum aus komischen Ideen und Übertreibungen des wahren Lebens - und eine Erlösung gibt es nie.
Mary und Max müssen ihren Weg konsequent ohne kitschiges Happy End zuende gehen und was im wahren Leben nicht funktioniert hätte, schaffen die Glycerintränen und -schweißperlen ohne weiteres: die Figuren gehen einem nahe, sehr nah, bis auf die Knochen. Natürlich ist dabei vieles konstruiert und gerade am Ende wirken die Nöte der Figuren aufgrund der Absurdität der Realität etwas forciert, aber die Botschaft bleibt: Freunde findet man an den ungewöhnlichsten Orten und solange man sich versteht, ist es egal, wer dein Freund ist - denn nur wenn du Freunde hast, wirst das Leben, solange es dauert, überleben.
"Mary & Max" ist ein Meisterwerk, mindestens so gut wie jeder hochklassige Pixar und vor allem, nicht unbedingt für Kinder an sich. Das dürfte ein Marketingproblem für den Film sein, der aber jedes Publikum ab 14 Jahren verdient hat, daß sich überwinden kann, bei der mangelnden vom Plakat schreienden Attraktivität trotzdem einen Versuch zu wagen.
Und sein großer Vorteil ist: aus einem klassischen Animationsfilm kommt immer der Rücksturz in die Realität, wenn man aus "Mary & Max" wieder ins Licht des Tages tritt, sieht alles gleich viel bunter aus. Wie gut, daß das Herz dann schon offen ist. (8,5/10)