Um sich dem Film "Precious" angemessen nähern zu können, ist es notwendig, sich die Bedeutung vor Augen zu führen, welche die literarische Vorlage "Push" für die afro - amerikanische Bevölkerung hat. Es ist ein Buch der Hoffnung, dass die Probleme der Menschen ernst nimmt, und dadurch, dass es eine extreme Fallhöhe beschreibt, erst ermöglicht, auch kleine Veränderungen und winzige Schritte aus der bestehenden Situation, als Erfolg erfahrbar werden zu lassen.
Der entscheidende Unterschied zu üblichen Sozialdramen liegt in dem Funken Hoffnung, der von Beginn an zu erkennen ist. Es ist keinem Sozialarbeiter, keiner Lehrerin und auch sonst keiner Person zu verdanken, warum die Chance einer Veränderung selbst in den Tiefen des menschlichen Daseins noch vorhanden ist, sondern nur Claireece, genannt "Precious" (Gabourey Sidibe), selbst. Im Grunde ist es eine alte Weisheit, dass jeder Mensch nur sich selbst helfen kann, aber dieser Fakt wird im Film gerne unterschlagen, um die Mär von einer wundersamen Rettung, die einen bedürftigen Menschen unerwartet ereilt, aufrecht zu erhalten. Das es hier nicht so ist, verdeutlicht, wie ernst der Film seine Protagonistin nimmt und wie nebensächlich es ist, welche Hautfarbe oder welchen Status Diejenigen haben, die ihr dabei helfen, ihr Potential zu nutzen.
Durch diese Konsequenz wird die Geschichte von der fettleibigen 16jährigen, die zusammen mit ihrer gewalttätigen und nur vor dem Fernseher sitzenden Mutter Mary (Mo´Nique) in einer heruntergekommenen Wohnung im New Yorker Stadtteil Harlem wohnt, und die von ihrem sie vergewaltigenden Vater zum zweiten Mal schwanger ist, von Beginn an erträglich. Und sie schafft den Freiraum, hier keine fantastische Geschichte eines sich gegen seine Umgebung auflehnenden Menschen beschreiben zu müssen, sondern sich ganz realistisch einer jungen Frau zu nähern, die sich im Intellekt und ihren Bedürfnissen nicht von der Masse unterscheidet. Ganz bewusst vermittelt der Film ihre an Fernsehbildern orientierten Fantasien, zeigt, wie sie selbst gegen das jüngere Mädchen aus der Nachbarschaft austeilt, der es ähnlich geht wie ihr, und lässt ihre von der Mutter anerzogenen Vorurteile deutlich werden, als sie etwa erfährt, dass ihre Lehrerin Ms.Rain (Paula Patton) lesbisch ist. „Precious“ ist einerseits das Ergebnis ihrer Umwelt, andererseits ist sie in ihrem Inneren nicht so kaputt, dass für sie keine moralischen Instanzen mehr existieren, wie es bei ihrer Mutter der Fall scheint.
Das vermittelt der Film schon in einer der ersten Szenen, als „Precious“ einen Klassenkameraden körperlich zurechtweist, der den von ihr gemochten Mathematiklehrer stört. Auch in Zukunft bleiben ihre Reaktionen, ihr Ausdruck an Emotion oder das Empfinden von Glück immer angemessen, bezüglich ihres schwerfälligen Temperaments, worin auch die außerordentliche Leistung der Erstdarstellerin Gabourey Sidibe deutlich wird, deren zurückhaltendes Spiel erst die kleinen, fast unmerklichen Nuancen in ihrer Entwicklung erkennbar werden lassen, während etwa Mo’Nique als ihre Mutter alle erdenklichen emotionalen Register ziehen kann. Durch die vielen Nebendarsteller, die bis auf die Ausnahme einer männlichen „Krankenschwester“ (Lenny Kravetz) nur aus weiblichen Akteuren bestehen, entsteht ein buntes Bild unterschiedlicher Charaktere, Herangehensweisen und Zukunftschancen, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit hegt, aber realistisch vermittelt, dass zwar jedes Leben kostbar genug ist, es retten zu wollen, aber auch keine Illusionen darüber vermittelt, wie gering die Chancen dafür oft sind.
Es ist dem Film hoch anzurechnen, dass es ihm gelingt immer das Gleichgewicht zwischen Ernsthaftigkeit und Lebensfreude zu halten, auch dadurch bedingt, den Betrachter an „Precious“ Form, ihre Realität in besonders schlimmen Momenten auszublenden, teilhaben zu lassen. Das hat nichts mit Verdrängung zu tun, sondern ermöglicht erst, die Realität zeigen zu können, ohne dabei Sensationsgier oder übertriebene Betroffenheit zu bedienen. Deshalb ist es auch letztlich egal, ob der Film 1987 spielt oder in der Gegenwart, denn „Precious“ innere Kraft steht generell für den Anspruch, jedem eine Chance zu geben und eigene Maßstäbe zu hinterfragen. Durch die hier beschriebenen Extreme, verschieben sich Wahrnehmungen und Ansprüche auch für den Betrachter, der wenig mit ihrer Lebensrealität gemeinsam hat – der Anblick einer jungen, schwergewichtigen Mutter, die gemeinsam mit ihren beiden Kindern durch die Menschenmassen läuft, wird so zu einem Hoffnung gebenden Happy-End (9/10).