REKONSTRUKTION EINER FAMILIE
Ein TV-Dreiteiler, der sich im Untertitel "Ein Jahrhundertroman" nennt, hochgelobt und das Genre der Fernseh-Biographie neu belebend - und dabei in der Erzählweise so gebrochen, dass man nicht genau weiß, sieht man nun die Verfilmung mit dokumentarischen Einsprengseln oder die Dokumentation mit eingefügten Spielszenen. Nimmt man die von Breloer gemeinsam mit Horst Königstein erstellte, ebenfalls dreiteilige Dokumentation "Unterwegs zur Familie Mann" hinzu, wird dieses Vexierbild von einem Familienporträt noch spiegelverkehrt gedoppelt: da vertauscht der Filmemacher nämlich das Verhältnis von Schauspiel und Dokument zu Gunsten des Letzteren und nutzt eingefügte Szenen (manche nicht verwendete) aus "Die Manns", um dem gerade im Zeitzeugeninterview Gesagten Anschaulichkeit mitzugeben - das wirkt beinahe, als glaube der Mann-Spezialist Breloer ("Treffpunkt im Unendlichen" über Klaus Mann 1983) seinem Film mehr als den Aussagen derjenigen, die miterlebt haben, was er zu rekonstruieren versucht.
Genau dieses erzählerische Mittel (auch wenn Breloer für seinen Stil bekannt ist: er entwickelte diese von ihm so genannte "offene Form" bereits 1987 in "Eine geschlossene Gesellschaft") ist das Hauptproblem von "Die Manns": durch den wechselhaften Charakter, dem Springen zwischen historischem Interview und inszenierter Darstellung, wird Kontinuität unmöglich und Identifikation von Seiten des Zuschauers schwer gemacht. Der Film täuscht nicht darüber hinweg, dass er Nachschöpfung ist, nicht Abbild der Wirklichkeit, und schafft so Distanz zu den Figuren (was nicht das Schlechteste ist, zumal diese Familie nun wirklich merkwürdig war) und zur Geschichte, auch Zeitgeschichte, mit der die Familie Mann eng verbunden, da Einfluss nehmend war. Und Letzteres bereitet am Meisten Unbehagen, denn es entsteht kein Bild der Zeit, des Jahrhunderts, der Menschen in ihm und folglich über weite Teile auch kein Gefühl der Betroffenheit oder der Anteilnahme. Das ist sicherlich beabsichtigt, zumal auch in Thomas Manns Literatur der Gestus der Distanz, geschaffen durch Ironie, markantes Stilmittel ist. Und gerade Thomas Mann, aber auch sein Bruder Heinrich sind verschlossene Menschen gewesen, denen kaum nahe getreten werden konnte - warum also sollte man es im Nachhinein tun können? Auf dieses Glatteis will sich der Film zu Recht nicht begeben und bemüht sich, Spekulationen zu vermeiden. Insbesondere die homoerotischen Aspekte des Charakters Thomas Mann werden weder sensationslüstern, noch hypothetisch, sondern unaufgeregt und verbürgt erzählt. Andererseits wirkt diese ständige Verbürgtheit, die Absicherung durch Zeitzeugen, das Belegen des Dargestellten als historische Wahrheit mitunter störend. Dies besonders, wenn manche der Aussagen von Zeitgenossen inhaltlich eher nichtig sind und nicht weiter bereichernd, was überwiegend bei der Hauptquelle Elisabeth Mann Borgese der Fall ist. Da ergibt sich häufig eher der Eindruck der Sprachlosigkeit - verwunderlich bei einer Schriftsteller-Familie, in der beinahe alle getextet haben. Aber vielleicht ist gerade geschriebene Sprache auch dazu angetan, sich hinter ihr zu verstecken. Wie dem auch sei, "Die Manns" entkräftet sich zwischen den widerstrebenden Bemühungen, einerseits authentische Wahrheit zu bieten und andererseits die filmische Wahrheit ständig zu brechen, zu stören, zu ironisieren. Glaubwürdig gemacht ist Manches dadurch nicht gerade und der gelegentliche Mangel an Glaubwürdigkeit wird noch verstärkt, indem vor Allem die Figuren Klaus und Erika Mann und ihre Freunde so exaltiert dargestellt sind, irgendwo schwebend schon vor ihrer Entdeckung des Morphiums, so gekünstelt auch in den privaten Szenen, dass ihre Aufgesetztheit eher nervt als überzeugt. Selbst wenn das den wirklichen Personen entsprechen mag: im Filmischen stört es ebenso wie eine Darstellung von Langeweile eben langweilig sein wird.
Das heißt nun aber nicht, dass "Die Manns" durchweg misslungen wäre - keineswegs. Die Unaufgeregtheit, mit der die Geschichte einer in jedem ausgeprägten Charakter problematischen Familie erzählt wird, ist wohltuend: es wird trotz Zeugenaussagen eben nicht Gericht gesessen über all die Abgründe, Verfehlungen, Sünden und vor allem: den Verdrängungen, die in dieser Familie ausschlaggebend für so manche problematische bis tragische Entwicklung war. Breloer kennt mit Sicherheit Marianne Krülls Buch "Im Netz der Zauberer", in dem sie wesentlich agressiver an die komplexe Struktur der Familie Mann herangeht als er und zeigt, welche Denkmuster im Hause Mann fatalerweise schon seit Thomas Manns Elterngeneration wirkten. So entbehrt Breloers Film zwar nicht der Spannung, lässt aber andererseits manche regelrecht grausame Verhaltensmomente eher unpointiert stehen. Da liegt eigentlich das größte Spannungspotenzial des Films: zwischen der liebevollen Familienwärme auf der einen Seite, beispielsweise manifestiert in der sorgfältigen Inszenierung des Weihnachtsfestes, und der Gefühlskälte aus der inneren Enklave auf der anderen. Der Film zeigt dies, aber er dramatisiert es nicht. Ein Verdienst ist diese Unaufgeregtheit, aber zugleich auch ein Verschenken, denn so entsteht kein wirkliches Verständnis für das, was in dieser Familie vor sich geht.
Heute hat vieles bei Weitem nicht mehr die Brisanz, die es in der Zeit vor 1968 noch hatte. Da zeigt sich die Familie Mann für die Kindergeneration als unerwartet freies Terrain, auf dem z.B. Homo- oder Bisexualität und Drogenkonsum ebenso ausgelebt (d.h. nicht unbedingt auch gutgeheißen) werden, wie das freie Denken, das bald in Opposition zum Nazireich stand und ins Exil führte. (Die Einbindung ins Zeitgeschehen während des Nationalsozialismus findet leider auch durch recht klischeehafte und inzwischen zu Stereotypen gewordene Standardbilder der Nazis statt - der Film wirkt bisweilen einfallslos.) Eine experimentelle Familie, die mit den Früchten des Experimentierens ebenso lebte wie sie es mit den Katastrophen musste, die gleichermaßen daraus entstanden. Der erstaunlich häufige Freitod überschattet das Familienporträt und dieser Schatten ist im Gesicht von Elisabeth Mann Borgese während der Interviews noch zu sehen. (Als sie am Grab ihres Bruders Klaus steht, bei dessen Beerdigung lediglich sein Bruder Michael anwesend war, versäumt es der sie begleitende Heinrich Breloer, warmherzig auf ihre offensichtliche Betroffenheit einzugehen, sondern duzt sie wie immer und grinst blöde dazu. Eine derartige Uneinfühlsamkeit ist häufig zu spüren und wirkt leider ein wenig wie filmemacherische Ausnutzung.)
Gut gelungen ist der Gesamtblick, mit dem hier eine ganze Familie betrachtet wird. Bei so vielen Figuren können zwar nicht alle gleichberechtigt nebeneinander stehen, wie das auch innerhalb einer Familie nicht der Fall sein kann, und so gehen manche Familienmitglieder wie Michael oder Monika Mann eher als Randfiguren unter, zumal sie im beschriebenen Zeitraum selbst mehr Beobachter, denn Gestalter des Mannschen Geschehens waren. Die Figuren, um die sich Breloers Film vornehmlich kümmert, sind aber wie eigenständige Handlungsstränge ausgeführt. Thomas Mann ist zwar die Figur im Zentrum und alle müssen sie lieben oder sich gegen sie wehren, sich an ihr messen, auch Heinrich, als er im Exil geradezu mittellos und abhängig von seinem literarisch dauerhaft und weit erfolgreicheren Bruder wird. Aber "Die Manns" ist eben keine Biographie des Literaturnobelpreisträgers - im Gegenteil wird das Künstlertum und Schreiben als intime Privatsache von der Öffentlichkeit ausgeschlossen - sondern ein Porträt der gesamten Familie. Das Schauspiel Jürgen Hentschs als Heinrich Mann ist vorzüglich. In seinem Blick liegt zugleich Besonnenheit und tiefe Leidenschaft, namentlich für seine sozusagen unstandesgemäß geheiratete Frau Nelly. Stoisch ist er während er genau weiß, dass seine Liebe insgeheim (und in Manchem auch offen) missbilligt wird, und stoisch ist er andererseits auch, wenn sich sein demokratisches Denken im Gegensatz zum zunächst nationalistischen Thomas Manns als das historisch angemessenere herausstellt. Der Handlungsstrang um Heinrich Mann gehört zu den spannenderen Geschichten, die der Film erzählt. Zu Recht wurde Hentsch für seine Rolle mit dem Adolf-Grimme- und dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet. Dahingegen ist Armin Müller-Stahl als Thomas Mann eine problematischere Besetzung, weil er hinter seinem Schauspiel den liebenswerten Eindruck nicht unsichtbar machen kann, der auch seine Figuren in anderen Filmen, im Guten wie im Unvorteilhaften, stets durchdringt. Hier ist doch eine enorme Diskrepanz zu den historischen Fotografien und Filmaufnahmen Thomas Manns zu sehen, die von korrekter Haltung und kühler Unnahbarkeit zeugen. Veronica Ferres als Nelly Kröger, Heinrich Manns zunächst Geliebte und seit 1939 dann Ehefrau, die durch ihre burschikos unverblümte Schnauze und ihren unkontrollierten Alkoholismus einen derb-deftigen Kontrapunkt in die Familie bringt, ist herrlich überzeugend auch in ihrem Verhältnis zum 27 Jahre älteren Literaten: eine tragische Figur, die von Außen in die Welt der Manns aus Lust und Intellekt, Freiheit und Verlogenheit hineingelangt und scheitert. Hier endete die Toleranz und Freiheitsliebe der Familie Thomas Mann.
Der Film ist sehenswert, um sich der Literaten- und Künstlerfamilie Mann zu nähern - auch als Wissensfutter, auf dessen Grundlage man die Schriften, Bücher, Briefe der Manns (erneut) entdecken kann. Zweifellos kann "Die Manns" einen Zugang zu dem Werk insbesondere von Heinrich, Thomas, Klaus und Golo Mann ermöglichen. Filmisch ist diese Chronik kein Meisterwerk, kann zum Teil mehr ärgern, als unterhalten und belehren, und ist auch nicht frei von mancher Einfallslosigkeit. Dennoch ist es erfreulich, dass dieses Unternehmen mit all seiner inneren Problematik angegangen worden ist. Es hätte weit mehr missglücken können. Auch das ist bemerkenswert.