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Schon während des Baus der Zwillingstürme des World Trade Centers studierte Philippe Petit deren Pläne, interviewte als vermeintlicher französischer Journalist einen Manager des Gebäudes, fand Verbündete für seinen Plan und gelangt so mit einem gefälschten Ausweis in die oberste Etage in knapp 420m Höhe, noch bevor die Wolkenkratzer vollständig fertiggestellt sind. Mit einem provisorischen Aufzug konnte er seine Ausrüstung transportieren, aber plötzlich gerät sein Plan ins Wanken, denn ein Wachpolizist macht es sich ausgerechnet in dem Geschoss bequem, von dem aus er auf das Dach gelangen will.

Was sich wie die Vorbereitung zu einem gewagten Verbrechen anhört, ist tatsächlich die Erfüllung eines Traums - einmal zwischen den zwei Türmen des "World Trade Center" in 420m Höhe auf dem Drahtseil tanzen, sozusagen im Himmel. Es ist der Traum des Philippe Petit, einem Akrobaten und Seiltänzer von Kindheit an, der dieses Ziel seit seiner Jugend verfolgte, genauer seitdem er die Türme noch vor dem Baubeginn als Zeichnung in einer Zeitschrift sah.

Doch es ist nicht nur lebensgefährlich, in dieser Höhe auf dem Seil zu wandeln, sondern es scheint geradezu unmöglich, die Gelegenheit dazu zu bekommen. Nicht nur, dass es grundsätzlich verboten ist und die Türme zudem gut bewacht werden, sondern allein das Seil zwischen den beiden Gebäuden zu spannen, unterliegt einem hohen technischen Aufwand, der zudem nur mit engem Teamwork erreicht werden kann. Aber wer will Phillipe unterstützen, seine eigene Verhaftung damit provozieren und gleichzeitig damit noch den Freund in Lebensgefahr bringen ?

"Man on Wire" erzählt diese abenteuerliche Story, die 1974 tatsächlich stattfand, in Rückblenden mit originalen Aufnahmen, teilweise nachgespielten Szenen, die dem Spannungsaufbau des Coups dienen, und aktuellen Interviews mit den Beteiligten, deren Statements passend eingeblendet werden. Dadurch ergibt sich ein dichtes Bild der damaligen Abläufe, die mit zwei vorangegangenen Aktionen in Paris und Sidney faszinieren können, wo Petit schon zwischen zwei hohen Türmen verbotenerweise auf dem Seil tanzte.

Diese Story und die realen Ereignisse an sich, hätten schon für einen aufregenden Dokumentarfilm genügt, aber "Man on Wire" geht darüber hinaus. Er vermittelt die Unmittelbarkeit, die dabei entsteht, wenn Jemand sich - ohne von realistischen Erwägungen abhalten zu lassen - einen Traum erfüllt, der bis zur letzten Sekunde hätte scheitern können ,womit jahrelange Vorbereitungen zunichte gemacht worden wären. Bewusst lässt der Film materielle Hintergründe weg und konzentriert sich auf die Protagonisten, denn Petit wäre niemals in der Lage gewesen, alleine dieses Unternehmen anzugehen.

Seine größte Fähigkeit lag - neben seinem akrobatischen Können - vor allem in der Motivation der Beteiligten, beginnend bei seiner Freundin Annie, über seinen besten Freund Jean-Louis bis zu vielen weiteren Helfern, die unterschiedliche Rollen - mal rühmlich, mal unrühmlich - spielten. Ihnen allen ist gleich, dass sie letztlich nur Mittel zum Zweck waren, denn einzig allein Petit stand im Mittelpunkt und seine Wünsche waren es, denen sich letztlich alle unterordnen mußten. "Man on Wire" macht so auch den Egoismus deutlich, zu dem ein Einzelner fähig sein muss, wenn er ein solches Unternehmen umsetzen will und es überrascht nicht, dass gerade der Erfolg letztlich zum Bruch zwischen den Beteiligten führte.

Entscheidend für den Eindruck des Dokumentarfilms ist der atmophärische Rückblick in eine Zeit, die endgültig vergangen scheint. Kaum vorstellbar, dass heute Jemand ohne die Unterstützung der Medien oder sich eines zukünftigen Autorenvertrags sicher zu sein, einer solchen Herausforderung stellen würde, die entweder tödlich oder mit einer Verhaftung enden wird. Schon der Gedanke an eine solche Aktion würde heute den Anschein des Wahnsinns erzeugen und es ist deshalb das größte Verdienst des Films, die hier geschilderten Ereignisse immer als Traum erscheinen zu lassen, dessen Verwirklichung von Schönheit und Fantasie zeugt und letztlich eine Symbiose eingeht mit den inzwischen zerstörten Gebäuden des "World Trade Centers" - ein Fakt, den der Film nie erwähnt, der aber in seiner Vergänglichkeit über dem gesamten Geschehen liegt (8,5/10).

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