Die Siebziger Jahr, westdeutsche Gemütlichkeit, in der der Schlager- und Pennälerfilm gerade noch so am Leben, der Heimatfilm auch vereinzelt wiederkam und Opas Kino immer noch betrieben wurde, auch wenn die Rufe nach Ablösung so langsam lauter wurden; dies hier und heute aber nicht mehr interessiert. Zwischen den Altlasten vor allem aus der Politik und der Geschichte und Umsturzversuchen dieser lag die Geburtsstunde einer Serie, die trotz erster Unkenrufe und anhaltender Schmähungen aufgrund der Bieder- und Steifheit bis in die späten Neunziger überlebt und gleichzeitig das Bild des Deutschen und des Deutschlands gleich mehrerer Jahrzehnte und so mehrerer Generationen, über ein Vierteljahrhundert im ganzen Ausland prägt. Derrick, Der Alte, Der Kommissar, als die Identifikation und die Vorstellung von uns nach außen schlechthin, trotz dessen und wobei man sich all die Jahre und all die Strecken auf der Suche nach dem Mörder und seinen Motiven kaum aus der Randzone um München herum, auf einem streng festgelegten Platz, stets die Kreise im pechschwarzen Bayern, einer zutiefst christlichen Provinz der Langeweile, der Normen und Traditionen für sich bewegt.
Verändern tut sich vielleicht die Welt da draußen, hier drinnen, in diesem abgeschiedenen und abgeschlossene Kosmos, aber nicht. Vielleicht nur langsam und/oder damit zu langsam, sodass man die Unterschiede erst im Zeitraffer merken würde und in dieser noch festgefrorenen und darauf auch zu späten Zeiten beharrenden Schreibweise und Inszenierung nicht. Geschrieben komplett von Herbert Reinecker, der die Unterhaltung und das Triviale ebenso beherrschte wie den Aktionismus und die Intimität, wird sich hier in einer gleichzeitig isolierten und doch vollen Sphäre bewegt, kennen die Figuren sich untereinander und sind familiär oder freund- bzw- bekanntschaftlich eng vermischt. Eine Nähe, die nur selten tatsächlich zur Gemütlichkeit und Familiarität und oft vielmehr zum Ausbruch von kurzer, aber verhängnisvoller Gewalt und zu heftigen Schaden für alle Beteiligten, da alle miteinander wie in einer Kette verbunden führt.
1974. Starten tut man die Reise mit "Waldweg", in der der erste (S-Bahn-)Halt schon mitten in der Nacht, am Ende des Tages, nach einer langen Arbeit plus anschließendem Ausflug, mit spätem Heimweg und so mit einem bösen Omen ist. Der erste Stolperstein ist gleichzeitig die Ahnungslosigkeit vom Bösen, die hier noch die Menschen und die fehlende Empathie der Umwelt deswegen auch umgibt. Die Folge dieser Unschuld und Unachtsamkeit ist verheerend, ist man nicht ge- und wird man auch nicht beschützt, was das erste Opfer, ein ermordetes Mädchen mit 17, 18, 19, ein "Flittchen" und "Luder", "entblößt", und "hemmungslos" in den Augen der alten Männer und Frauen und den folgenden Auftritt vom Ermittler und seinen Assistenten ergibt. Folge 1 ist von Dietrich Haugk gedreht, der den Oberinspektor schnell als Institution, als Retter in der Not und als Fels in der Brandung einführt, vorher in der Mordnacht allerdings zur wahren Stärke mit der Erschaffung des Antagonisten loslegt. Nach außen die Normalität, die Biederlichkeit, das Verwunschene von Mühlthal (Starnberg), was plötzlich in nackte Gier und violente Triebe, in die Verwandlung vom Freundlichen in eine beängstigende Fratze, mit nichts Freundlichem und auch gar nicht mehr menschlichem im Gesicht umschlägt.
Ein Einstieg ist harter Tobak, selbst in der (bald darauf) um Sekunden gekürzten Fassung, die die Tat selber ausspart und die Qual des Opfers nur in der Fantasie des Zuschauers zeigt und schlichtweg Panik, beim Publikum und bei den Figuren erregt. Die heile Welt ist schon zusammengebrochen, bevor sie überhaupt existiert, führen der Inspektor und sein Assistent im dicken Wintermantel dann nur noch im Nachhinein durch das Unheil, und wird nicht gemütlich zum Tee der Täter geraten, sondern die Psychologie darum und dahinter bemüht. Die Einschaltquoten waren hoch, die Kritik aber (hier und für die weiteren vier Folgen endlich) vernichtend, hat man sich vor allem an der ungewohnten Vorgehensweise mit Zeitsprünge, Rückblenden und auch der spürbaren Kälte sowie der speziellen Moral gestört, die den Spiegel vorhält und das Bild darin zersplittert. Sittenwächter vor der Mattscheibe und in ihr. Die Freizügigkeit der Mädchen selber hat nach Ansichten der Meisten hier das Verbrechen erst herausgefordert, das Schicksal zum Gelingen gebracht; die kurzen Röcke und die offenen Blusen, an deren Anblick man sich in dieser Tratsch-, Klatsch- und Unterstellungssucht seitens der (alten) Männer und Frauen höchst empört stört. [Eine Sichtweise der Bigotterie, in der der Deutsche getreu der Redewendung so richtig hässlich wird und schlagartig seine Fratze zeigt, lässt sich noch mehr in der überragenden Episode 3, "Stiftungsfest" begutachten, in der unter der Regie von Herbert Käutner erst gefeiert und Wein, Weib und Gesang auf den Tisch kommt und man dann von einer Sekunde auf die andere stocknüchtern und aus dem Rudel die geifernde Meute wird.] Überhaupt ist der Putz hier schon ab, die Gemäuer waren mal erhoben, haben aber die beste Zeit auch schon längst hinter sich, knarzen die Dielen, sind die Wände ergraut, das Licht schal und die Gardinen vergilbt, was nicht gerade für Heimeligkeit und dem allgemeinen Wohlfühlgefühl entspricht. Selbst die Landschaft ist bedrohlich, die Bäume kahl und morsch. Ein besseres Gestrüpp, in der der offizielle Weg zum Ziel zu lang ist und die Abkürzung tödlich. [Kein Wunder, dass man hiervon weg und aus dem "Nebel, der Nässe und der Kälte" hinaus in die bunte Exotik und die blühende Flora und Fauna, am besten gleich in das portugiesische "Madeira" will.]
War der Einstieg schon eine schwierige Gratwanderung, zwischen Realität und Exploitation, so eine Art "Die Bestie im Mädchenpensionat", ist es der Anschluss, Folge 2, mit "Johanna" und der Überführung eines Täters durch emotionales und psychologischen Unterdrucksetzen, der Folter und Qual gleich noch mehr. Ein Zwei-Personen-Stück, ein Psychoduell, wie im Theater, auch von dem Experten dafür, Leopold Lindtberg, entsprechend dieser Voraussetzungen und Ausgestaltungen gedreht. Derrick und Klein sind hier noch mehr Nebendarsteller, fast kaum im Bild, greifen allerdings gleich zu einer höchst obskuren Wahl, in dem sie abermals ein Lockvogel und diesmal gar ein richtiges Werkzeug für die Aufklärung eigentlich ihrer Ermittlungen installieren. Eine trockene Episode, noch im Stil der Sechziger Jahre, die schauspielerisch für Lilli Palmer und Helmuth Lohner anspruchsvoll, aber gleichzeitig seltsam unbefriedigend, undankbar und wie frigide, abseits der als Lolita positionierten Helga Anders jedenfalls gedreht.
Episode 4, der “Mitternachtsbus“, ist die erste produzierte Folge überhaupt, der erste Anruf bei Oberinspektor Derrick, der erste Mädchenmord von noch so vielen und auch die erste Folge, die an einen bösen Heimatfilm, inklusive gar aller Klischees erinnert. Ein Dorf (Tittmoning, Oberbayern) weitab vom Schuss, in der die alten Männer, das Patriarchale das Sagen hat und die Frau generell nichts zählt. Mit etwas Glück ist man die “Dorfnutte“, die mit Anfang 20 schon die halbe Belegschaft, in seinem zwar geringschätzig angesehenen, aber trotzdem genossenen Lebenswandel durchgenommen hat. Gefüllt mit “alten, geilen Böcken“ und jungen Taugenichtsen, die nichts zustande bringen und eine komplette Generation Versager sind, sowie weiteren Pappfiguren wie dem Alkoholiker und dem geistig zurückgebliebenen Koloss, die mangels Bauernschläue aber noch die einzig Menschlichen in dieser braunen Sippschaft hier darstellen, wird eine gar niederträchtige Erzählung ausgebreitet, in der, trotz oder wegen der ersten gedrehten Folge Derrick schon der Getriebene und Klein mal der Treiber sind.
Episode 5 erweitert dann plötzlich die Szenerie, wird aus bisheriger Abgeschiedenheit und alleiniger Teamarbeit zwischen Derrick und Klein mit einem Schlag der Einblick in das komplette (vollgestopfte und zugequalmte) Revier. Eine Großfahndung ist ausgelöst worden, der gesamte Polizeiapparat auf Hochtouren, da der Vorgesetzte und die Presse und die Öffentlichkeit nach Aufklärung drängt. Zum Glück bleibt die Geschichte (bis auf das düstere Ende) gleich, ein weiteres Die Mörder sind unter uns, auf die der einzige Autor Herbert Reinecker in seinen Psychogrammen und versuchten Zeitzeugnissen so drängt. Dies hier jedoch recht trivial und mit dem dicken Plakativpinsel: wieder ist die Offenherzigkeit bis zum Bauchnabel nicht ganz unschuldig, und die Mutter, eine Hure sowieso nicht.
“Porträt eines Mörders“ war der Arbeitstitel dieser Episode, die hoch angesehen, aber nun wirklich viel zu sehr Kintopp, auch exaltiert gespielt und eine ziemliche Räuberpistole mit reichlich Grobheiten ist. “Porträt eines Mörders“ könnte auch Episode 6 heißen, (wie bspw. auch Episode 3 und Episode 9 “Paddenberg“ und auch Episode 10) ein wahres Glanzstück, die sich stattdessen “Nur Aufregungen für Rohn“ nennt. Und das gleiche Vorhaben, diesmal allerdings tatsächlich aus der Perspektive und auch der Identifikation des zum Mörder gewordenen Mannes und eine tatsächliche Bestandsaufnahme dessen Motive, der Vorgeschichte, und vor allem der Mühen und (psychischen, physischen und dramaturgischen) Aufregungen, formell und materiell im höchsten und im höchst gelungenen Maße übrigens ist. (Regie führte Wolfgang Becker.) Wurde hier erstmal das schnöde Geld aus Motiv für den Mord erwähnt, die schnelle Möglichkeit zur Erfüllung aller Träume, geht es folgend in "Madeira" aus der gleichen Sichtweise, aber am Ende des Lebens statt am Anfang dessen weiter. Während Rohn noch inmitten des Studiums steht und für die Mühen des Daseins nicht gewillt ist und sich für zu clever hält, ist nun der "Onkel Paul" (gespielt mit schmierigem Daddy - Charme von Curd Jürgens, der auch daheim stets mit Anzug in Krawatte herumläuft) der Mann am Drücker, der die reichen, aber einsamen und auch gesetzten Damen der Münchener Schickeria um ihr Erspartes und ihren letzten Atem gleich mit ausnimmt. Erstmals in der sogenannten High Society der Bussi-Bussi-Gesellschaft um den Englischen Garten spielend, darf man sich hier an allerlei schicken Wochenendhäuschen im Jagdhausstil, braunen Eichenschrankwänden und protzigen Röhrenfernsehern in der Mitte des Raumes erfreuen, während Derrick und sein Assistent hier wieder weniger ermitteln, sondern auf die Nase eines Hundes (dem des Mordopfers) und der schieren Einfältigkeit der Nichte des Täters, gespielt von Susanne Uhlen zählen.
Die Reise ist jetzt schon zu Ende, befindet man sich bereits seit einer Weile im nächsten Jahr, im 1975, das andere Anforderungen, vor allem seitens des Publikums, aufgestachelt noch durch die schlechten und besonders die Herangehensweise gängelnden Kritiken der Gazetten. Die Engstirnigkeit, in der Reineckers "Warum wird ein Mensch zum Verbrecher?" nicht geduldet wurde und die Rufe nach dem "Wer war der Mörder?" lauter und lauter wurden, trug man jetzt schon Rechnung, was den weiteren Episoden Umschreibarbeiten abnötigte und gleich das erste Opfer, die der Episode 8 "Zeichen der Gewalt" erforderte. Eine Krimiplotte mit Schmuddelimage und viel Nachtclub- und Stripteasegeschehen, in dem wirklich die Zeichen auf Gewalt und auf Sturm, inklusive zwei längeren Verfolgungsjagden über die Dächer von München und ungewohnt viel Kugelhagel stehen. Bereits der (noch ruhige und moralisch intelligente) Anfang springt gefühlt ein paar Jahre nach vorn, mit körperlicher Bedrohung und einem Gangster an die Macht - Machismo; einer anderen und undifferenzierten Tonart, die gleichzeitig modernes Exploitationkino wie Perrak (1970) oder Blutiger Freitag (1972) zitieren oder mit den Actionszenen gar an Angst über der Stadt (1975) erinnern, was zum bisher beschaulichen Tun der komplette Kontrapunkt und nur mit oberflächlichen und durchschaubaren Spannungsreizen aus Thrill und Stunts und der derberen Darstellungsweise von u. a. Gaby Dohm, Raimund Harmstorf und Sybil Danning gespickt ist.
Ein Auf und Ab an Qualität, aber auch eine erstaunliche Bandbreite an komplett gegensätzlichen und trotzdem gegenwärtigen Stimmungslagen und Szenerien, die Reinecker in hoher Vielfalt (und mithilfe der wechselnden Regisseure) erreicht. Nach dem B-Picture aus dem Bahnhofskino ist Episode 9 “Paddenberg“ die wohl persönlichste Schreibweise des unermüdlichen Autors, der auch private Einflüsse und sein Blickfeld auf Geschichte und Gesellschaft miteinbeziehen lässt. In “Paddenberg“ wird auf die Nachkriegszeit '46 verwiesen und dort gleichzeitig Erklärung, Verführung, Ausrede und auch Heil in der Flucht gesucht (siehe Reineckers “Ein Zeitbericht unter Zuhilfenahme des eigenen Lebenslaufes“ und das fremdbiografische, kritische “Reineckerland“ über den früheren Propagandaschreiber, der u.a. den NS-Erziehungsfilm Junge Adler , 1944, über “rassisch einwandfreie“ Lehrlinge mitverfasste).
“Hoffmanns Höllenfahrt“ ist das Ende eines miesen Tages und der Anfang von noch mieseren und noch viel mehr; auch hier ist der Täter im Mittelpunkt des Geschehens, 'Onkel Hoffmann', gespielt mit Bravour von Klaus Löwitsch, der eines Nachts die angetrunkene Tochter des Nachbarn in der Gegend um Altkirchen, Kreuzpullach, Oberbiberg mitnimmt, auf deren im Beschwippstsein verführerisches Spiel eingeht und plötzlich vor der Ruine seiner Existenz dann steht. Zu spät ist es zum Umkehren, ist bloß noch ein Vertuschen und ein Bangen und ein Warten und Hoffen und ein Weitermachen möglich, und eben doch nicht. Ein Beginn wie beim Schulmädchenreport, mit Ingrid Steeger als (deutlich älteres) 'flottes Früchtchen', der von jetzt auf gleich zum zitternden Albtraum und dem vergeblichen Verstecken vor der eigenen Panikmache wird; gefangen in einem kleinen Fehler, der mit jedem weiteren Schritt immer größer und größer und letztlich ganz schnell zur privaten Katastrophe wird.