"Der Vorleser" ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Bernhard Schlink und reflektiert anhand einer tragischen Liebesgeschichte über die schwierige deutsche Vergangenheit vom Dritten Reich bis zur Zeit der Wende. Der junge Michael (David Kross) wird als 15-Jähriger von der älteren Hanna (Kate Winslet) verführt und verliebt sich in sie. Eines Tages verschwindet sie plötzlich. Erst Jahre später sieht er sie während seines Jura-Studiums wieder - als Angeklagte in einem Prozess gegen ehemalige KZ-Wärterinnen.
In ruhigen, unaufgeregten Einstellungen erzählt der Film seine Geschichte unter weitestgehendem Verzicht auf moderne formale Mätzchen wie Rückblenden oder kurz eingeblendete Andeutungen vergangener Zeiten. Die schrecklichen Verbrechen, die Hanna zur Last gelegt werden, werden mit keinem Bild gezeigt, sondern einzig mit der Kraft der Worte vor dem geistigen Auge des Zuschauers wiederbelebt.
Diese schlichte Inszenierung passt perfekt zu einer Geschichte, die ihre großen Geheimnisse immer nur Stück für Stück und sehr zurückhaltend preisgibt. So ist der Film im ersten Drittel vor allem die Geschichte eines Jugendlichen, der sich in den 50er-Jahren ein kleines Stück Freiheit abgewinnt, indem er mit seiner älteren Geliebten ganze Nachmittage und Wochenenden verbringt. Die Wende kommt ebenso unspektakulär wie jede Entwicklung hier: für sein Jurastudium sitzt er im Gerichtssaal - und entdeckt plötzlich Hanna unter den Angeklagten.
Die Aufarbeitung der Schreckenstaten Einzelner im Dritten Reich wird dabei nicht unbedingt als zentrales Thema behandelt. Zwar stellt die Figur der Hanna in ihrer begriffsstutzigen Tragik deutlich dar, wie auch einfache Menschen durch die Umstände zu Mördern und Helfern werden konnten. Doch die Frage nach dem Wie und Warum des Holocausts wird kaum mehr als gestreift. Im Zentrum bleiben stets die komplexen Gefühle der beiden Hauptfiguren: Hanna als Mitschuldige am grausamen Tod Hunderter gefangener Frauen, die ihre Taten mit Sätzen rechtfertigt wie: "Es war einfach kein Platz. Wir mussten doch Ordnung halten." Und Michael als junger Mann, dessen erste Liebe sich als Handlangerin eines bestialischen Todessystems entpuppt und die dennoch - und das mag vielleicht die wichtigste Aussage des Films sein - ein Mensch bleibt, ein Mensch mit Gefühlen, mit Angst, Hoffnungen und Enttäuschungen, ein Mensch, der liebt und der geliebt werden kann. Diese moralische Komplexität der Figur Hanna ist wirklich beeindruckend (auch wenn sie natürlich aus dem Buch so übernommen wurde).
Überhaupt bleibt der Film inhaltlich sehr nah an der Vorlage. Wer das Buch also kennt, dürfte auch von der größten Überraschung, die Max erst kurz vor Hannas Verurteilung begreift, nicht überrumpelt werden. Dennoch kann sich ein Blick lohnen: Denn die Intensität, mit der Kate Winslet ihre Figur spielt, sucht ihresgleichen. In den Sexszenen äußerst freizügig, vor Gericht später ängstlich und unterwürfig, verkörpert sie die seelisch zerrissene Hanna mit einer atemberaubenden Leinwandpräsenz, der man in jeder einzelnen Szene gebannt zuschaut. Zusammen mit einer ganzen Reihe hochkarätiger Stars in Nebenrollen, wie etwa Bruno Ganz, Ralph Fiennes und Lena Olin, ergibt sich so ein schauspielerisches Glanzlicht, das sehr viel zur Spannung des Films beiträgt.
Da kann man auch schon über einige Schwächen hinwegsehen, wie etwa die teilweise nicht sehr authentische Ausstattung der 50er-Jahre oder die manchmal arg aufdringliche dramatische Hintergrundmusik. Und auch dass die repressive Atmosphäre Deutschlands der späten 50er im Grunde gar nicht erwähnt wird, scheint ein wenig schade. Hier ist sicher einiges Potenzial zur Aufarbeitung deutscher Geschichte verloren gegangen. Dennoch unterhält "Der Vorleser" mit grandios agierenden Stars, komplexen Figuren und einer tragischen Geschichte über Liebe, Schuld und Vergebung.