Review

Ich muss sensiblen Menschen empfehlen, den Film ohne weitere vorherige Kenntnisse zu gucken, weshalb ich hier eine

*** SPOILER WARNUNG ***

anbringen möchte.

Vorlage

Bestseller, deutsche Vorzeigeliteratur, inzwischen ein Standardbuch im Leistungskurs Deutsch, weil es ja - ach so interessant - um Sex geht. UND um Nazis. UND um die Frage nach der eigenen Verantwortung und die Diskrepanz zwischen Moral und Recht. Aber auch weil es von einem deutschen Professor für "Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie" geschrieben wurde. Und nicht zuletzt, weil Oprah Winfrey es in ihrem "Book Club" besprochen hat.

Das geht einem sensiblen Jungen schon nah, wenn eine ältere Frau ihn in der Badewanne abschrubbelt und danach hemmungslosen Sex mit ihm hat. Besonders, wenn der Junge erst 15 und sie früher eine strenge Aufseherin war, die ihn manipuliert, mit ihm spielt, ihn emotional in einem Käfig hält. Oder ist sie doch sensibel, handelt sie aus Angst, ist sie das verletzte Tier ohne Ausweg?

Die Verfilmung weicht nur an wenigen Stellen von der Vorlage ab. Vieles von der Komplexität wird notgedrungen zurückgefahren oder angedeutet. Die Doppeldeutigkeit der Ich-Erzählung etwa, in der Hanna nur gefiltert aus der Sicht Michaels beschrieben wird, fällt im Film weg. Auch die Akribie des Schreibstils erkennt man in den Bildern nicht wieder. Aber die Deutungsmöglichkeiten bleiben ebenso offen, die Nähe zu den Figuren ist geradezu erdrückend.

Akteure

Der jüngere Michael ist in der Tat bezaubernd. Etwas trottelig und naiv, gebildet und sensibel, nachdenklich und gutherzig. Zum Glück wurde der Schauspieler für den zweiten Teil (im Studium) beibehalten. Dass er einem fehlt - genauso wie die jüngere Kate Winslet - wird eigentlich erst klar, als die Rückblenden kurz vor Schluss enden. David Kross, der mir schon als Krabat gut gefiel, passt mit seinem ganzen unverbrauchten Charme in die Rolle des verführten Jungen. Sein deutscher Akzent, der von Kate Winslet teilweise imitiert wird, könnte nicht besser passen.

Ich hätte den älteren Juristen nicht mit Ralph Fiennes ("Lord Voldemort") besetzt. Aber seit er in Schindlers Liste den SS-Offizier gegeben hat, sehen die Amerikaner in ihm wohl mehr den typischen Deutschen, als ich das nachvollziehen kann. Er hatte auch schon in Der englische Patient mit einem der Produzenten, Anthony Minghella, zusammengearbeitet.

Kate Winslet war allerdings die Wunschbesetzung des Regisseurs. Sie erhielt dafür den Oscar. Als KZ-Aufseherin hätte sie sich wohl keiner vorstellen können - nach dem Film fragt man sich, wer das sonst hätte besser verkörpern können. Ungenierte, natürliche Nacktszenen, seitenlange Gefühle, die man hinter ihren Augen ablaufen sieht, Härte, Naivität, Verwirrtheit, wer sonst kann das alles gleichzeitig spielen?

Ebenso ist Stephen Daldry (Billy Elliot) der perfekte Regisseur für so einen Herzzerreißer. Ja, er ist schwul, aber er ist auch verheiratet und hat eine Tochter, und es macht ihm alles nichts aus, darüber zu sprechen. Ebenso wie Marco Kreuzpaintner oder Roland Emmerich wird er dadurch nicht zu einem besseren Regisseur, aber er wirkt glaubhafter und das macht es leichter, seine Interpretation des Vorlesers zu akzeptieren.

Filmkunst

Warum der Film in englischer Sprache, aber mit so vielen deutschen Schauspielern gedreht wurde, ist anfangs verwirrend. Die Amerikanerin Kate Winslet kann man ja noch verstehen als Publicity und Publikumsmagnet. Aber der deutsche Akzent passt perfekt, wird doch in Deutschland gedreht, ist doch das Buch gerade wegen seiner deutschen Herkunft so bekannt, und wird so auch eine Distanz geschaffen, die beispielsweise Operation Walküre durch die amerikanisch-geprägte Crew abgeht.

Wirtschaftlich erlangte der Film - insbesondere in den Staaten - nicht den gleichen Erfolg wie das Buch. Nicht zuletzt aufgrund der vernichtenden Kritik der jüdischen Nachkriegsgeneration. Ein "Hineindenken" in das Verhalten eines KZ-Aufsehers gehe ja nun mal gar nicht. Der Vergleich zu einem Henker oder einem Soldaten, deren Jobbeschreibung kaum moralischer ausfällt, wurde abgelehnt. Die ausgeprägte Nacktheit dürfte auch eine Rolle spielen, obwohl das Buch noch erotischer war.

Die Szenen, die in der Gegenwart spielen, gefallen mir gar nicht. Ein Typ, der irgendwo rumhockt, und vor sich hin siniert - aber ohne Bezug zu den Rückblenden. Ein Mann, der sich mit seiner Tochter unterhält - aber eben nicht über die Vergangenheit. Ein Erzähler, der es 20 Jahre lang nicht schafft, seine große Liebe zu kontaktieren (anders als in der ähnlich gelagerten Geschichte "The Lady with the Dog", die mehrmals zitiert wird), das wird im Buch wenigstens begründet. In dieser Zeitebene passiert nichts, und so hätte man sie auch weglassen können.

Schließlich, das Umdenken von Hanna, nachdem sie sich selbst das Lesen beigebracht hat, ihr zunehmendes Schuldbewusstsein, der Grund für ihre auch äußerliche Veränderung, das alles kommt im Film nicht heraus. Ihr Selbstmord, der die meisten Fragen aufwirft, ist nur eine Randnotiz.

Dafür entlohnt am Ende das Treffen mit der jüdischen Überlebenden durch ein konsequent aufrichtiges Gespräch, durch ein übergreifendes Verständnis, durch einen runden Abschluss.

Aber das sind Details. Nur im Vergleich zum Buch fällt er ab, als Film gibt es keinen Grund, ihm nicht 9 Punkte zu geben. Es ist ein Ansatz, die Menschen damals und einen Teil unserer Geschichte emotional zu begreifen, nicht zu verteidigen. Gefühlskino für neugierige und sensible Naturen.

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