Bernhard Schlinks Roman war tatsächlich das erste deutsche Buch, dem es gelang auf der New York Times-Bestenliste Platz 1 zu belegen. Sieht man also, wieviel internationale Aufmerksamkeit das Werk auf sich ziehen konnte, so verwundert es nicht, dass es im Zuge einer Verfilmung zu einer deutsch-amerikanischen Co-Produktion unter der Regie des renommierten Stephen Daldry ("Billy Elliot", "The Hours") kam. Einen großen Reiz bezieht der Film deshalb auch aus dem Zusammenspiel hiesiger Akteure mit internationalen Größen wie Kate Winslet, Ralph Fiennes oder Lena Olin.
Deutschland im Jahre 1995: Michael Berg (etwas steif: Ralph Fiennes) bereitet sich auf sein Treffen mit seiner Tochter Julia (unauffällig: Hannah Herzsprung) vor. Dabei erinnert er sich an seine Jugend im jahre 1958 zurück. Der junge Michael (talentiert: David Kross) lernt die wesentlich ältere Hannah Schmitz (wieder einmal hervorragend: Kate Winslet) kennen und es dauert nicht lange, bis die beiden eine leidenschaftliche Affäre beginnen, die zusätzliche Besonderheit dadurch erlangt, dass Hannah, die Analphabetin ist, sich von Michael aus seinen in der Schule behandelten Büchern vorlesen lässt. Eines Tages ist die Frau jedoch auf einmal verschwunden. Es wird Jahre dauern, bis Michael sie wiedersieht. Und die damit einhergehenden Umstände werden alles andere als angenehm sein...
Obwohl mit Stephen Daldry ein Brite den Regiestuhl besetzt hat und amerikanische Dollar das Projekt vorangetreiben haben, weist "Der Vorleser" eine inszenatorische Kargheit auf, die man eher mit rein deutschen Produktionen assoziieren würde. Gerade wenn man an den visuellen Einfallsreichtum von Daldrys "The Hours" zurückdenkt, wirkt dieser Film hier geradezu schlicht. Daldry nimmt sich also zurück und lässt die Geschichte für sich sprechen, wobei man allerdings konstatieren muss, dass das Drehbuch nicht das allerbeste ist. So weisen Dialoge und Figurenzeichnung den ein oder anderen Schwachpunkt auf, wobei die Handlung bisweilen auch etwas sprunghaft wirkt. Gerade letzter Umstand ist umso überraschender, hatte doch gerade "The Hours" bewiesen wie leichtfüßig und gekonnt Zeitsprünge in Szene zu setzen sind. Hier dagegen wirkt es oftmals so, als hätte man sich die Rahmenhandlung mit Ralph Fiennes auch sparen können. Allzu sehr stören tut sie nicht, wirklich zur Geschichte beitragen, kann sie aber auch nur gegen Ende.
Ein deutliches Indiz dafür, dass wir es hier mit einer deutschen Co-Produktion zu tun haben, ist der bisweilen geradezu übertriebene Einsatz von bekannten Gesichtern, die auch in winzigste Kleinstrollen gequetscht wurden. Wenn gestandene Mimen wie Jürgen Tarrach ("Die Musterkanben") nur wenige Sekunden im Bild zu sehen und Jungdarsteller wie Max Mauff ("Die Welle") gerade mal bessere Statistenrollen abbekommen, dann sollte man sich doch stark überlegen, sie überhaupt in solchen Parts einzusetzen. Mal abgesehen davon, dass diese Auftritte eher ablenkend wirken und den Zuschauer dazu animieren könnten, ein "Who´s who" der deutschen Schauspielprominenz zu starten, anstatt sich weiter mit der Handlung zu befassen.
Zum Glück dürfte dies hier aber doch eher unwahrscheinlich sein, denn die Hauptdarsteller reißens allemal raus. Kate Winslet (derzeit auch top in "Zeiten des Aufruhrs", unter der Regie ihres Ehemanns Sam Mendes) schlecht spielen zu sehen, scheint ja ohnehin schon ein Ding der Unmöglichkeit zu sein und so fügt sie mit der facettenreichen Rolle der Hannah Schmitz eine weitere beeindruckende Darstellung ihrer Vita hinzu. Die Auszeichnung mit dem Oscar ist dafür jedenfalls mehr als gerechtfertigt und nicht bloß Formsache, weil Winslet bisher so oft übergangen wurde. Anerkennung verdient auch der sympathische, gerade einmal 18 Jahre alte David Kross ("Knallhart"), dem es gleingt, neben der schier alles und jeden an die Wand spielenden Kate nicht zu verblassen, sondern den Zuschauer durch sein fein-sensibles Spiel für sich einzunehmen. Zudem gebührt ihm Lob für die Absolvierung einiger für die Handlung durchaus zweckdienlicher Nacktszenen, die im Übrigen gar nicht mal so spektakulär und schon gar nicht anstößig geraten sind, in Ami-Land aber dennoch, wen wunderts, für reichlich Wirbel gesorgt haben.
Die Nebendarsteller fallen im Vergleich zu den Leistungen der beiden etwas ab. Gerade Ralph Fiennes ("Der englische Patient") kann nicht wirklich überzeugen und wirkt als ältere Version von Kross etwas zu kühl, obschon er dessen Mimik und Gestik in Ansätzen gut hinbekommt. Bruno Ganz ("Der Untergang") ist immerhin erstklassiger Support in der Rolle von Michaels Jura-Dozent, wenn auch recht unterfordert, aber immerhin einer der wenigen Nebendarsteller, an die man sich nach Filmende noch erinnert. Lena Olin ("Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins") macht ihre Sache ebenfalls sehr solide, obgleich es diskussionswürdig ist, dass sie einmal die altersmäßig stark geschminkte Film-Mutter von Alexandra Maria Lara ("Von Jugend zu Jugend") spielt und dann wiederum deren Charakter in älteren Jahren. Womit wird bei der guten Alexandra wären, deren Szenen man an einer Hand abzählen kann und die leider nicht genug herauszustechen vermag, ihre Sache aber nicht schlecht macht. Ähnliches gilt für Karoline Herfurth ("Im Winter ein Jahr"), die zwar deutlich mehr Screen-Time zur Verfügung hat, aufgrund ihres aber nur an der Oberfläche haftenden Charakters wenig Eindruck hinterlässt. In weiteren Nebenrollen finden sich noch Volker Bruch ("Rose"), Susanne Lothar ("Funny Games"), Matthias Habich ("Nirgendwo in Afrika"), Jeanette Hain ("Das Trio"), Claudia Michelsen ("Maria an Callas") und die schon erwähnte Hannah Herzsprung ("Vier Minuten").
Fazit: "Der Vorleser" ist bestimmt nicht der Film des Jahres, aber auch weit entfernt davon, schlecht zu sein. Man hat beileibe schon wesentlich schwächere Co-Produktionen gesehen, in die Deutschland involviert war. Trotz einiger Holprigkeiten, entpuppt sich der Film vor allem in der zweiten Hälfte als recht bewegendes Drama, welches den Zuschauer wieder und wieder ins Herz trifft. Die Sinchro mag bisweilen etwas steril ausgefallen sein, die Kameraarbeit verbesserungsfähig und die Musikuntermalung etwas zu unauffällig und glatt geraten sein. Und ja, sicher wäre mehr drin gewesen. Doch allein schon die Leistungen von Winslet und Kross sorgen für das Prädikat "sehenswert".
7/10 Punkten