A Tale of two Sisters oder das Märchen der beiden blinden Vampirwaisen
Als Märchen könnte man diesen Film sehr wohl beschreiben. Oder auch als einen wunderschönen Traum. Er ist voller poetischer Anspielungen und Dialogen, voll von wunderschönen surrealen Bildkompositionen. Genau so, wie man sich ein Märchen als Kind vorgestellt hat. Ungefähr so, wie die Erinnerungsstücke eines nächtlichen Traumes in unserem Kopf herumschweben.
Ich war richtig perplex. Rollin hat mich wieder einmal überrascht.
Zum einen, weil er mit drei seiner Gesetzmäßigkeiten Bruch begeht:
1. Am Anfang wird schnell klar, dass Henriette und Louise Vampire sind. Es wird nicht angedeutet wie teilweise häufiger in seinen früheren Filmen, in denen oftmals eher die Menschen die "Vampire" darstellten und nicht umgekehrt.
2. Die für Rollin so typischen Nacktszenen sind, bis auf zwei relativ kurze Szenen, fast vollkommen verschwunden.
Und 3., die offensichtlichere von allen: Am Ende kommt der Zuschauer in den Genuß eines waschechten Abspannes.
Da habe ich mir schon einmal, leicht verwundert, die Augen gerieben. Würde etwa nach dem relativ konventionellen Anfang eine chronologische, leicht verständliche Vampirgeschichte folgen?
Mitnichten, die drei eben genannten "Stilbrüche" sind die einzigen. Denn dann kommen sie wieder: die Andeutungen, Metaphern, die tollen Bilder, die skurrilen Gestalten, die unglaublich schöne Musik zu den poetischen, wunderbar gefilmten Bildern. Rollin weiß eben, was er seinen Fans schuldig ist.
Rollin überraschte mich aber auch mit der Geschichte an sich. Er wandelt einmal mehr den typischen Vampirmythos um, indem er fast gänzlich auf die alten Regeln verzichtet. So können sich Henriette und Louise sehr wohl bei Tage bewegen, nur sehen sie nichts, da sie beim Erstrahlen des Tageslichts erblinden. Sie schlafen in Zimmern mit Kreuzen an den Wänden oder können, ohne dabei Schmerz zu empfinden, in Kirchen hineintreten. Auch haben sie keine übermenschlichen Kräfte, sie können nicht fliegen und sind sehr wohl verwundbar. Einzig der Blutdurst bleibt der Selbe, und die Faszination, die von diesen beiden, wunderschönen, sanftmütigen, fast engelsgleichen Vampirmädchen ausgeht.
Der Film lebt sowieso ungemein von den beiden Hauptcharakteren Henriette und Louise.
Sie ziehen die Menschen im Film sowie auch den Zuschauer sofort in ihren Bann. Sie wirken so verführerisch und zerbrechlich zugleich. Jedoch wenn sie sich auf der Jagd befinden und ihre Zähne blecken, geht eine unheimliche Bedrohung aus, welche nach dem Stillen des Blutdurstes wieder in seine angenehme Faszination zurückkehrt.
Doch die beiden sind nicht die ultraharten Killer, die Menschen aus Spaß töten. Sie müssen Blut trinken um selbst Leben zu können. Deswegen hadern sie auch oft mit ihrem Schicksal. Sie können sich nicht an ihr Leben vor diesem Dasein erinnern. Deswegen flüchten sie sich selbst in eine Art Traumwelt, indem sie Bücher lesen und die darin vorkommenden Gestalten als sich selbst deklarieren. Sie stellen sich vor, ehemalige Aztekengöttinnen gewesen zu sein, denen man gehuldigt hat, denen man sich freiwillig hingegeben hat. Doch nicht nur das, sie stellen sich im Laufe des Films auch vor Magierinnen zu sein, oder eine ist die Frau vom berühmten Zauberer Houdini, die andere ist die berühmte Frau, die aus den Flammen empor steigt. Sie konstruieren ihre besonderen Traumwelten und verschiedenen Rollen, um zu verschleiern, ja quasi zu vergessen, dass sie morden müssen um zu leben.
Sie sind Außenseiter in einer Welt, die Außenseiter nicht zu billigen scheint. Deshalb kreieren sie sich ihre Welt, so wie sie ihnen gefällt. Sie fühlen sich vom morbiden, vom Dunkel der Nacht magisch angezogen. Doch niemand von den "normalen" Menschen scheint dies zu verstehen. Doch sie sind nicht allein, sie sind zu zweit. Rollin zeigt uns hier, dass es nicht wichtig ist, wieviele man "Freunde" nennt oder von wievielen man Anerkennung und Aufmerksamkeit geschenkt bekommt, sondern, dass man eine Person braucht, auf die es ankommt, die einen versteht. Das schildert er fast rührend, indem er den Zuschauer an diesem "Märchen" teilhaben lässt. Diesen Aspekt gibt es auch schon in seinen früheren Werken, wie in "Requiem for a Vampire" z. B.
In ihren "Träumereien" begegnen den Waisen weitere Geschöpfe der Nacht, wie ein angeblich weiblicher Werwolf, die Mitternachtsdame und ein weiblicher Ghul, der sich nur von Kadavern ernährt. Die drei sind auch Außgestoßene der Welt, sie gehören nicht dem Tage an, sie sind Nachtschwärmer. Wenn die eigentliche Welt der Menschen schlafen geht, kommen sie ans Licht und beherrschen die Szenerie. Oder sind es nur Charlatane, die verrückt sind, oder sich in der Nacht ihren eigenen Wunschträumen hingeben, weil sie am Tage für die Menschen eher uninteressant, ja gar anders wirken!? Man weiß es nicht, die Vermutung liegt jedenfalls Nahe, fährt die Kamera doch in der Gruft der Mitternachtsdame auf ein Buch zu mit dem Titel "Immortal Tales".
Aber vielleicht ist der ganze Film nur ein Traum, der von zwei verängstigten blinden Waisenkindern geträumt wird, die sich nach mehr sehnen, als nur ihr Leben in totaler Dunkelheit zu verbringen. Oder ist es der Traum zweier Vampirmädchen, die nach einem tieferen Sinn ihres Daseins trachten und diesen in ihren Träumen vermuten?
Vielleicht ist für Rollin diese Tagerblindung von Henriette und Louise nur eine Metapher, eine Metapher für die generelle Blindheit, für die generelle Verschlossenheit der Menschen vor den Dingen, die in der Welt vorgehen. Dinge, die sie vermutlich nicht verstehen würden, weil sie nicht verstehen wollen? Nachts sehen die Mädchen die Welt in einem schönen Blaustich, der ihnen vielleicht eine geschönte Welt aufzeigt, aber ihnen auch Hoffnung auf einen tieferen Sinn gibt. Rollin lässt uns wieder einmal allein. Und er würde sich vermutlich über die Interpretationen oder auch Diskussionen, denen sich der geneigte Filmfan hingibt, nach dem Ende des Films, erfreuen.
Ein großes Kompliment geht von mir an die Hauptdarstellerinnen Alexandra Pic und Isabelle Teboul. Sie spielen Louise und Henriette nicht nur, sie sind die beiden Vampirwaisen. Waren frühere Filme Rollins oftmals geprägt vom ersichtlichen Overacting seiner Darsteller, sind die beiden eine wahre "Offenbarung". Ihnen nimmt man die Vampirwaisen von der ersten bis zur letzen Minute ab, sie spielen mit einer Inbrunst, dass es nur noch eine Freude ist ihnen zuzuschauen. Auch die Dialoge sind sehr schön ausgefallen und weit weg vom typischen "Mädchengequatsche". Ein Glück, dass der Film nur im Originalton vorliegt, denn die beiden sprechen ein so schönes Französisch, angereichert mit so vielen emotionalen Betonungen, dass eine deutsche Synchro die Wirkung bestimmt eingedämmt hätte.
Auch auf filmtechnischer Basis ist der Film eine Augenweide. Die für Rollin so typischen Kameraperspektiven kommen zwar nicht ganz so zum Zuge wie in seinen früheren Filmen, aber sein Kameramann kreierte wunderschöne Bilder von Friedhöfen, Landschaften oder den entlegendsten Winkeln der vereinzelten Städte. In den meisten Nachtszenen lässt er den Zuschauer sehen, wie die beiden Vampirwaisen sehen: das Bild ist in einem angenehmen Blauton gefilmt. Somit befindet man sich mitten im Geschehen.
Und als kleines Bonbon für seine Fans: die wundervolle Brigitte Lahaie hat im Film einen Cameo-Auftritt!
Abschließend bleibt noch anzufügen, dass Rollin mich einmal mehr begeistert hat. Sein "Vampire" besticht durch eine Schönheit und Faszination, wie sie nur wenige Regisseure hinbekommen können.
Allerdings handelt es sich hier schon um deftige Kost, nicht von den Splatterszenen her, sondern vom Verständnis der symbolträchtigen Geschichte, einfach der ganze Stil, welcher total gegensätzlich den üblichen Sehgewohnheiten gehalten ist. Für viele wird er zu lahm, zu billig sein. Aber gerade für Rollin-Fans wird dieses Märchen ein Pflichtprogramm darstellen!