Das ist ein problematischer Film. Er polarisiert schon mal - immerhin. Ein Zeichen, dass etwas diskussionswürdig ist. Ein erstes Problem bereits widerfährt der Geschichtsaufarbeitung grundsätzlich und ist unvermeidlich. Wenn nämlich noch die Möglichkeit besteht, dass diejenigen zurückschauen, die damals „dabei“ waren, also Zeit(geist)zeugen sind. Und vierzig Jahre nach '68, zur Aufführung des „Baader Meinhof Komplexes“, sind immer noch viele „dabei“ gewesen. Die „wissen das alles schon“, denen erzählt der Film „nichts Neues“. Wenn man also „dabei“ war und Geschichte miterlebt hat, dann sieht man sie aus einem ganz anderen Blickwinkel, wenn auch nicht gleich zwangsläufig aus einem der Befangenheit. Welchen Einfluss das letztlich auf das Urteil zu einem Film wie den „Baader Meinhof Komplex“ hat, lässt sich schwer abschätzen, nur dass es einen ausübt, das ist unzweifelhaft. Und ob es nun von Vorteil ist oder nicht, Geschichtsdarstellung als Zeitzeuge zu beurteilen, das lässt sich für mich wirklich nicht ohne Anmaßung feststellen; zumindest lässt sich soviel sagen: die einen haben die vielleicht vermeintlich objektivere Perspektive auf ihrer Seite, konnten aber auch nicht den Zeitgeist atmen wie die anderen.
Warum der Blickwinkel hier wichtig erscheint: Im Gegensatz zum Nationalsozialismus, der in der Schule unermüdlich, natürlich auch zu Recht, beackert wird, im Gegensatz zum Römischen Reich, im Gegensatz zur Französischen Revolution gehört die Rote Armee Faktion einem Themenkomplex an, der, wenn überhaupt, in den Lehrplänen nur stiefmütterlich behandelt wird, behaupte ich - als Zeitzeuge. Selbst vom „dunklen“ Mittelalter weiß der heutige Schüler mehr als von Baader, Meinhof und Ensslin. Mit der RAF hat unser Bildungswesen so seine Komplexe. Natürlich kann der gemeine Nachgeborene sich dann selbst bilden, mal eine Doku im Fernsehen mitnehmen. Guido Knopp hält da bestimmt für einen was bereit. Dann sieht man, „wie es wirklich war“.
Uli Edel und Bernd Eichinger sind nun leider aus ähnlichem Holz geschnitzt. Sie wollen „authentisch“ sein, war ja mit Eichinger schon beim „Untergang“ so. Das bedeutet dann ein Orientieren an Fakten, Fakten, Fakten und Nachstellen zeitgenössischer Aufnahmen („Reenactment“, neues deutsches Modewort). Aber Uli, fragt man sich da, weiß du nicht, dass du hier einen Spielfilm gedreht hast? Woher weißt du, wie und ob sich das mit Gudrun Ensslin und Peter-Jürgen Boock in der Badewanne wirklich zugetragen hat? Boock, der „Karl May der RAF“, hat es dem Stefan Aust, dem Autoren des Standardwerks „Der Baader-Meinhof-Komplex“, selbst erzählt. Dann wird das wohl so gewesen sein. Uli, dein Film ist so konzipiert, von innen heraus zu erzählen. Aus der Perspektive des Befangenen, des Schleierhaften, der Terroristen, der Täter (weiteres Modewort: „Täterfilm“). Das ist wieder genauso wie mit Adolf H. und seinen letzten Tagen im Bunker. Das ist ein ziemlich dunkler, hermetischer Raum, Komplex, von dem niemand außer seinen „berichtenden“ Insassen, die ein Historiker besonders argwöhnisch beäugen muss, für sich beanspruchen kann, wirklich „dabei“ gewesen zu sein. Ist das nicht leicht wahnsinnig, sich da auf Authentizität zu berufen und zu proklamieren, man zeige, „wie es wirklich war“, Uli?
Wenn der Film von innen heraus erzählt, dann meine ich, er zeigt RAF-Innenansicht und nur ein kleines BKA-Außen. Er möchte darin unterrichten, „was passiert ist“ und präsentiert in seiner Handlung eine wie an der Schnur gezogene Ereignisreihe. Das erste Problem tritt wieder auf: Viele „wissen das alles schon“. Der Film bietet hierzu ganz nett anzuschauende Collagen aus Inszenierung, Nachstellung und Archivmaterial, auch weltpolitisches aus Vietnam, von Martin Luther King, Präsident Kennedy oder Che Guevara, zu sehen vornehmlich tot, um die Geschehnisse seiner Handlung in den chronologischen Kontext einzuordnen, der freilich sich nur im eng gesteckten Rahmen zwischen Schah-Besuch und Hanns-Martin-Schleyer-Ermordung bewegt. Die Stafette vermittelt das Bild einer stürmischen Zeit lauter Attentate und prominenter Toter, doch der Bezug zum RAF-Inneren, das weitgehend abgeriegelt vom Globalen bleibt, gelingt ihm nicht. Auch wenn der „Baader Meinhof Komplex“ das gar nicht will, er müsste es.
BKA-Chef Horst Herold, der im Film ein paar kluge Sätze über Terrorismus im Allgemeinen äußert, plädiert, den Motiven der Terroristen nachzuspüren, so einen Zugang zu ihnen zu finden und ihnen dann das Handwerk zu legen. Freilich, das macht der Film nicht genügend, die Nachgeborenen dabei wieder ins Gedächtnis gerufen, bei denen nicht jeder sofort etwas anzufangen weiß mit Begriffen wie der Kommune I, APO oder SDS, Begriffen, die hier dargestellt werden, allerdings mit der Selbstverständlichkeit desjenigen, der das „alles schon weiß“. Andererseits, was wiederum seiner Innenansicht geschuldet ist, unternimmt der Film auch nicht den Versuch, die gesellschaftspolitischen Stimmungen und Reaktionen einzufangen. Da bleiben nur ein, zwei „Tagesschau“-Einspielungen, die einem nichts weiter sagen als: Es wurde davon berichtet. Zumal die Arbeit des Bundeskriminalamtes als einziger dauerhafter Kontrast hierzu ein sehr inneres Außen ist, das auch nur den Eindruck vermittelt, ein ziemlich hermetischer Kreis von wenigen Eingeweihten zu sein, der sich mit dem Thema beschäftigte.
Auch wenn der „Baader Meinhof Komplex“ in seinen 150 Kinofassungsminuten (für die Öffentlich-Rechtlichen, ordentliche Mitfinanzierer des Projekts, soll wie beim „Untergang“ eine längere Fassung geschnitten werden) schlechterdings nicht viel vom „Theoriegewichse“ (Johanna Wokalek als Gudrun Ensslin) hält, kann man ihm doch nicht ganz vorwerfen kann, er hätte gar nichts über die RAF, ihre Konzepte und Motive im Allgemeinen und Meinhof, Ensslin und Baader im Speziellen zu erzählen. Es lässt sich nichtsdestotrotz guten Gewissens behaupten, dass ein Steven Spielberg zum Beispiel mit „München“ Edel und Eichinger weit voraus ist, was die anspruchsvolle Verhandlung eines solchen Komplexes betrifft, insbesondere die moralischen (In)Fragestellungen innerhalb einer Terroristengruppe sowie die Bemühung um Opferperspektiven. Aber ich glaube, das wäre wohl nicht mehr „authentisch“ genug. Oder Uli?
Denn letztendlich ist es hier doch so: Den Opfern kommen keinerlei Sprechrollen zuteil, sie werden ihren Identitäten beraubt und unterscheiden nicht im geringsten von erlegten Gangstern gleich einem „Paten“-Film, blutig durchsiebt in einem skrupellosen Kugelhagel. Für einen Film, der immerhin ab 12 freigegeben worden ist, ziemlich beachtlich. Und schon interessant, wie etwa Zombiefilme mit „menschenähnlichen Wesen“ die Leute von der FSK empören und es hier in einem Film der Siegelmarke „besonders wertvoll“ mal eben durchgewunken wird, wie einem mehr als menschenähnlichen Wesen, dem Rudi Dutschke, ins Gesicht geschossen wird. Es gibt also einen Unterschied zwischen Gewaltdarstellung. Diese hier ist „wertvoll“ und hat eine Lobby. Mag der Film damit nun die Kaltblütigkeit des terroristischen Vorgehens darstellen, die Anbiederung an die Action-Sehgewohnheiten der heutigen Zeit kann er nicht verhehlen. Er schielt unzweifelhaft nach Internationalität, hat sich in seinem Titel bereits der orthographischen Bindestriche entledigt. So ist das. So bringt man der Jugend heutzutage Geschichte bei.
Womit wir wieder beim Lehrplan wären. Der „Baader Meinhof Komplex“, das sollte ich vielleicht noch betonen, eignet sich selbstverfreilich nicht, zur Negierung des diesbezüglichen Defizits des Geschichtsunterrichts eingesetzt zu werden. Ich glaube aber ernsthaft, der Film könnte junge Interessierte dazu anstiften, mal beispielsweise nach „Meinhof“ oder „RAF“ zu googeln und bei Wikipedia vorbeizuschauen. Um mal zu sehen, was das denn für eine war, die Ulrike Meinhof. Wenn der Film mir das nicht vollständig beantworten kann, ist man eigentlich geneigt, ihn als gescheitert anzusehen. Doch dass man durch einen Film alles über die RAF in Erfahrung bringe, wäre der Bürde etwas zu viel. Möglicherweise aber trägt er mit seiner Massenkompatibilität dazu bei, ein neues Aufarbeitungsbewusstsein entstehen zu lassen. Mit seiner beherzten Darstellung von prügelnden Jubelpersern inklusive des Todes von Benno Ohnesorg und einer insgesamt, abgesehen von BKA-Chef Horst Herold, ganz und gar nicht gut wegkommenden Staatsmacht berührt der „Baader Meinhof Komplex“ ja die Sollbruchstelle. Da wäre natürlich noch mehr möglich gewesen, wenn man etwa an den Begriff des agent provocateur und Peter Urbach denkt, der als Verfassungsschutzagent die radikale Linke mit Waffen versorgte.
Festgestellt hat „Der Baader Meinhof Komplex“ zumindest: Terrorismus ist nicht gleich Terrorismus. Wenn er inländischen Ursprungs ist und Sympathisanten findet, ist das ein klares Indiz, dass etwas faul sein muss im Staate Dänemark. Auch wenn andere „Deutscher Herbst“-Filme bereits tiefer vorzudringen vermochten in den rumorenden Korpus, dem terroristische Kinder entschlüpften und deren Vaterschaft er gerne leugnet. Und um dem Edel-Eichinger-Komplex noch etwas abzugewinnen: Er hat weder Staat beziehungsweise Polizei noch Terroristen gut wegkommen, durch die gewählte Innenansicht für letztere zwischenzeitlich sogar Sympathien aufkommen lassen, das heißt, dämonisiert und den moralinsauren Zeigefinger gehoben hat er nicht. Er billigt seinem Publikum schon selber zu, Reflexionen anzustellen, sich ein Urteil zu bilden, eben weil er sein von gesellschaftlichen Reaktionen abgekapseltes Vakuum nicht verlässt. Ich meine, es hätte schlimmer kommen können. Dennoch, irgendwie beschäftigen sich Eichingers Geschichtsproduktionen - immer mal wieder - mit diesen Hohlräumen, die sich der Rechtsprechung durch Suizid entziehende Mörder beherbergten, und erzählen hochachtungsvoll vom Untergehenden.