„Komprimierte Geschichte"
„Hört auf sie so zu sehen, wie sie nicht waren. Ihr habt sie nicht gekannt."
Dieser Ausspruch Brigitte Mohnhaupts gegen Ende des Films richtet sich keineswegs ausschließlich an ihre RAF-Genossen, die die soeben in der Stammheimer Todesnacht umgekommenen Gründungsmitglieder Andreas Baader und Gudrun Ensslin zu Märtyrern stilisieren. Gemeint sind ebenso die Zeitgenossen der Terroristen - ob Sympathisanten oder Gegner - sowie das heutige Kinopublikum. Zumindest die erste Generation der RAF hat längst Einzug in die vor allem bundesrepublikanische Popkultur gehalten und wurde bzw. wird in besonders übersteigerter Form gerne auch mal zu einer modernen Robin Hood-Variante verklärt. Seit dem 11. September hat diese „Terror-ist-schick"-Attitüde zwar etwas an Strahlkraft verloren, gänzlich zerstört ist der „Mythos RAF" aber mit Sicherheit (noch) nicht. Die Verfilmung von Stefan Austs (Mammut-)Standardwerk Der Baader-Meinhof-Komplex soll hier (endlich) Abhilfe schaffen, so zumindest die Ankündigung der Macher.
Der deutsche Produzentenmogul Bernd Eichinger (u.a. Der Name der Rose, Der Untergang, Das Parfüm) und sein Filmhochschulen-Kommilitone Uli Edel hatten sich da einiges vorgenommen. Schon eine werkgetreue Umsetzung des 900 Seiten Wälzers des ehemaligen Spiegel-Chefredakteurs hätte eher für eine mehrstündige TV-Serie denn einen zweistündigen Kinofilm gesprochen. Das Ergebnis ist - kaum überraschend - dementsprechend zwiespältig ausgefallen. Die Bewertung des Films kann und wird damit je nach Gewichtung und persönlicher Präferenzen sehr unterschiedlich ausfallen.
Zunächst einmal muss man den Machern Respekt zollen, ein solches Mammutwerk überhaupt auf die Leinwand gebracht zu haben. Eine faktisch dermaßen umfangreiche, komplexe und politisch brisante Thematik in ein Unterhaltungsmedium zu übertragen ohne dabei den Überblick und damit unweigerlich auch das Publikum zu verlieren, ist ein Bravourstück, das nur sehr selten gelingt. So gesehen ist der Film ein Erfolg.
Mit einer schier unglaublichen Detailversessenheit und Faktentreue bombardiert Regisseur Edel den Zuschauer mit den wesentlichen Aktionen der ersten beiden RAF-Generationen. Nichts Relevantes wurde ausgelassen. Beginnend mit Ulrike Meinhofs ersten Artikeln im linken Blatt „konkret", über die erste Anschlagaktion von Baader und Ensslin (Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäusern im April 1968), weiter mit Verhaftung, Revision und erneuter Verhaftung Baaders bis zur faktischen Gründung der RAF am 14.5.1970 (gewaltsame Befreiung Baaders durch Ensslin und Meinhof). Weder fehlt die militärische Ausbildung des harten Kerns in einem jordanischen Terroristencamp (Juni-August 1970), noch der Überfall auf drei Berliner Banken nach deren Rückkehr. Einigen Raum nimmt auch der Haftaufenthalt des Führungstrios (seit Juni 1972) zusammen mit dem 192-tägigen Stammheim-Prozess und der „Todesnacht" vom Oktober 1977 ein. Im Schlussviertel widmet sich der Film der zweiten Generation um Brigitte Mohnhaupt und der zunehmenden Radikalisierung der RAF mit den Morden an Generalbundesanwalt Buback und dem Vorstand der Dresdner Bank Jürgen Ponto sowie der Entführung und Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyers (alles 1977).
Aufgrund dieser enormen Ereignisfülle wirkt der Film teilweise sehr gehetzt und schlaglichtartig. Zum einen erfordert dies höchste Konzentration beim Zuschauer, zum anderen entsteht der historisch unkorrekte Eindruck einer über Deutschland permanent hinwegfegenden Terrorlawine. Da der Fokus klar auf den Terroristen und vor allem ihren Aktionen liegt, bleiben auch die Stimmung der Bevölkerung sowie die gesellschaftspolitischen Auswirkungen der Terrorakte weitestgehend ausgeblendet. Auch der enorme Druck unter dem seinerzeit die politische Führung der BRD stand, lässt sich bestenfalls erahnen.
Lediglich zu Beginn des Films - als in einer eindrucksvoll inszenierten Massenszene die gewaltsam von der Polizei aufgelöste Demonstration gegen den Schah-Besuch nachgestellt wurde - sowie in immer wieder eingestreuten originalen Tagesschau-Schnipseln versucht Edel, diesem Problem beizukommen. Auch die eher kurzen Auftritte Rudi Dutschkes können hier positiv erwähnt werden. Insgesamt gelingt es dem Film aber zu wenig, den vorherrschenden Zeitgeist sowie die Wirkung der RAF auf Sympathisanten oder Gegner transparent zu machen. Ob dies bei gleicher Lauflänge ohne weiteres möglich gewesen wäre, ist allerdings durchaus diskutabel.
Ein klares Plus des Films ist dagegen das Darstellerensemble. Zwar kann man darüber streiten, ob jede noch so kleine Nebenrolle mit den bekanntesten deutschen TV- und Filmschauspielern besetzt werden musste. Die Protagonisten dagegen sind ideal gecastet. Vor allem Martina Gedeck gibt eine unglaublich intensive Vorstellung als RAF-Chefideologin Ulrike Meinhof. Nicht nur äußerlich, sondern vor allem in Gestik und Sprachduktus - Meinhof hatte eine seltsam anmutende Sprechweise, die leicht keuchend und gleichzeitig sehr langatmig war - hat sie die ehemalige Journalistin offenbar genauestens studiert. Obgleich die oben beschriebene Erzählweise des Films keine allzu tiefen Charakterstudien der Terroristen zulässt, gelingt es Gedeck auf beeindruckende Weise, den Wandel von der systemkritischen aber privat ausgeglichenen Intellektuellen hin zur fanatisch-verblendeten Radikalen glaubhaft darzustellen.
Auch Johanna Wokalek hinterlässt als Baader-Freundin Gudrun Ensslin nachhaltigen Eindruck. In Gefühlskälte und unbedingter Bereitschaft zu radikaler Brutalität wird sie nur noch von RAF-Chefplanerin Brigitte Mohnhaupt (ebenfalls stark: Nadja Uhl) übertroffen.
Moritz Bleibtreu dagegen wird in nicht wenigen Besprechungen als Fehlbesetzung bezeichnet. Der deutsche Starschauspieler sei einfach zu nett für den jähzornigen Andreas Baader. Aber das ist gerade eine der Stärken des Films. Der lockere Bleibtreu gibt anfangs den nie um einen flotten Spruch verlegenen Terror-Cowboy. Bei Baader scheint der Spaß eindeutig an erster Stelle zu stehen. Als man bereits zu grübeln beginnt, warum der Film Baader zumindest teilweise zum Sympathieträger (v)erklärt, schlägt das Pendel langsam aber merklich um. Immer häufiger kommt die jähzornige und brutale Seite des RAF-Gründungsmitglieds zum Vorschein. Spätestens bei den Szenen im Stammheimer Gefängnis ist jegliche Sympathie verschwunden.
Mit der Verfilmung von Stefan Austs RAF-Studie Der Baader Meinhof-Komplex haben sich Produzent Bernd Eichinger und Regisseur Uli Edel sicherlich teilweise übernommen. Das explosive und bis zum bersten angespannte gesellschaftspolitische Klima während der Hochphase des RAF-Terrors (1968-1978) kann nur fragmentarisch vermittelt werden. Zu groß ist die Detail- und Faktenfülle, zu stark liegt der Fokus auf den Taten der Terroristen.
Andererseits hat der Film auch eine Reihe von Stärken. Die Darstellerleistungen vor allem des Protagonistentrios sind beeindruckend. Lediglich Bruno Ganz als BKA-Chef Horst Herold kann nicht so recht überzeugen und spielt wie auf einer Theaterbühne. Auch der Hitler des Führungsbunkers schlägt ein ums andere Mal durch, was hier eher störend wirkt.
Von einer Romantisierung oder mythischen Überhöhung der RAF ist der Film meilenweit entfernt. Der „Mythos-RAF" wird, wenn nicht demontiert, so doch zumindest deutlich relativiert. Gerade die nüchterne Präsentation der zentralen Terrorakte in teilweise äußerst brutalen und drastischen Bildern entlarvt die RAF-Mitglieder als fanatische und eiskalte Mörder. Dabei ist der Film zu keinem Zeitpunkt tendenziös. Eine Parteinahme ist nicht auszumachen. Auch die keineswegs immer unbedenklichen Methoden der Ermittlungsbehörden werden ebenso unkommentiert aber deutlich dargestellt.
Insgesamt ist Der Baader-Meinhof-Komplex - trotz seiner inhaltlichen Überladenheit und teilweise gehetzten Inszenierung - aber doch ein sehr interessanter und aufwühlender Film geworden, der sicherlich zu einer intensiveren Beschäftigung mit der kontroversen Thematik anregt. Und das kann keineswegs jeder historische Spielfilm für sich verbuchen.
(7/10 Punkten)