Eines der heikelsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte und eine 700-seitige Vorlage in nur zweieinhalb Stunden, kann das überhaupt funktionieren? Aller Skepsis zum Trotz: "Der Baader-Meinhof-Komplex" bewältigt den Spagat zwischen dem Anspruch, die Chronologie der Ereignisse möglichst exakt wiederzugeben, und kinotauglicher Dramaturgie auf gekonnte Art und Weise. Freilich mit einigen Abstrichen im letzten Drittel, die Zeit, die Mitglieder der zweiten und dritten RAF-Generation vorzustellen, bleibt nicht mehr. Diejenigen, die Austs Standardwerk zum Thema nicht gelesen haben, dürften mit den vielen Namen ihre Probleme bekommen.
Aber das Hauptaugenmerk liegt nunmal auf den Köpfen der RAF. Vor allem die Entwicklungen und Motive von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin werden spannend und nachvollziehbar aufgezeigt. Die Figur des Andreas Baader wird hingegen etwas stiefmütterlich behandelt. Es wird deutlich, was für eine Präsenz dieser Mann damals gehabt haben muss, aber über seinen biographischen Hintergrund wird jedoch nur wenig bekannt.
Aber generell konserviert der FIlm die Stimmung, die unter den Studenten in den 60er und 70er Jahren vorgeherrscht haben muss, eindrucksvoll. Die Hintergründe der Studentenbewegung werden keinesfalls, wie der ein oder andere Rezenzent bemerkt haben will, oberflächlich behandelt. Angesichts der Komplexität des Themas, werden die Begleitumstände der Ära umfassend zusammengefasst: Vietnam, die Frage nach den bundesdeutschen Altlasten aus dem Nationalsozialismus, das Schicksal der Menschen in der Tschechoslowakei, in Mexiko und im Iran , die kommunistische Idee und die hetzerische Berichterstattung in der Presse - nahezu kein Aspekt bleibt vergessen. Dass nicht jeder Umstand ausführlich diskutiert werden kann, liegt wohl in der Natur eines Kinofilms.
Umso ausführlicher werden die Auslöser dargestellt, die zur endgültigen Radikalisierung der Studentenbewegung geführt haben. Die ersten zehn Minuten, in denen die Demonstration gegen den Besuch des iranischen Schars gezeigt wird, gehören zu den intensivsten Minuten, die der deutsche Film in den letzten Jahren zu Stande gebracht hat. Die geladene Stimmung vor der Ankunft des Schares, die Attacken der Jubel-Perser und der aus den Fugen geratene Polizei-Einsatz wühlen den Betrachter auf. Wenn man sich den Tatsachen bewusst wird, die an diesen Nachmittag in der Ermordung des Studenten Ohnesorg münden, wird verständlich, warum so viele Menschen mit den RAF-Terroristen sympathisierten.
Doch was sich von nun an entwickelt, ist keine fehlgeleitete Zurschaustellung einer Stadt-Guerilla-Romantik - die Taten der Baader-Meinhof-Gruppe bleiben gänzlich unkommentiert. Dass Baader, Meinhof und Co. abgefeiert werden, muss der Betrachter also nicht fürchten. Und spätestens wenn Generalstaatsanwalt Siegfried Buback ermordert wird und die Terroristen ganze Magazine in dessen Mitarbeitern entleeren, wird auch dem Letzten deutlich, dass etwas ziemlich aus dem Ruder gelaufen sein muss. Aktio und Reaktio münden in einer sinnlosen Spirale der Gewalt. Auch wenn die letzten Aktionen des heißen Herbstes im Film actionkinoreif aneinander gereiht werden, allein um diese Erkenntnis geltend zu machen, erfüllt das rasante Erzähltempo seinen Zweck.
Auch die sonstige Regiearbeit von Uli Edel ist nicht zu beanstanden, wer hätte es diesem Mann nach langen Jahren in der Versenkung zugetraut. Szene für Szene wird authentisch aufgearbeitet, ein Beispiel sei nur die Darstellung der Erschießung Benno Ohnesorgs: Der Garagenhof, im Hintergrund der VW-Käfer, den man von den erschütternden Fotoaufnahmen kennt, es würde mich nicht wundern, wenn das sogar das Nummernschild übereinstimmen würde. Die Requisite hat durchweg ganze Arbeit geleistet. Auch gut: Originalaufnahmen und zeitgenössisiche O-Töne (bspw. aus der Tagesschau) werden inhaltlich und stilistisch sinnvoll eingestreut und sorgen, neben den vielen Originalschauplätzen (u. a. Stammheim), für noch mehr Authenzität.
Ebenfalls durchweg hervorragende Leistungen liefern die Darsteller des Films ab. Moritz Bleibtreu mimt den draufgängerischen und unberechenbaren Baader mit Bravour, Johanna Wokalek überzeugt als fanatische, wenn auch etwas zu hübsch geratene Gudrun Ensslin und selbst die sonst eher gewöhnungsbedürftige Martina Gedeck liefert als Ulrike Meinhof eine starke Performance ab. Vor allem gegen Ende, wenn sich immer mehr Unsicherheiten in den Gedanken der Meinhof offenbaren, spielt sie ihre Stärken aus.
Auch der übrige Cast überzeugt, nicht zuletzt weil der "Baader-Meinhof-Kompöex" bis in die letzte Nebenrolle hinein grandios besetzt ist: Nadja Uhl, Heino Ferch, Bruno Ganz, Alexandra Maria Lara seien als prominensteste Vertreter der deutschen Schaupielzunft genannt.
Fazit: "Der Baader-Meinhof-Komplex" ist ein äußerst gelungender Hybrid, der die Geschichtsstunde mit spannender Unterhaltung gekonnt verbindet. Auch wenn die Ereignisse bekannt sind, bleibt die Geschichte spannend, tatsächlich zieht sie ihren Reiz aus der Tatsache, dass sie auf Fakten basiert. Und die Fakten, die bekommt der Zuschauer gleich reihenweise präsentiert. Mancher mag hiervon erschlagen sein, meiner Meinung nach sind aber alle wichtigen Ereignisse enthalten, Austs Buch wurde sinnvoll auf Stoff für zweineinhalb Stunden Filmmaterial gekürzt. Klar, alles passt nicht rein, aber für eine erste Annäherung an das Thema reicht die Fülle an Informationen alle Male. Und wenn der Film es schafft, weitergehendes Interesse zu erwecken, hat er seinen Zweck mehr als erfüllt. (9/10)