„Wie ist das so, jünger zu werden?“, fragt die mittvierzigjährige Daisy ihren beinahe gleichaltrigen Geliebten, der in ihren Armen, neben ihr im Bett liegt. Benjamin antwortet mit leicht naiver Stimme: „Das kann ich gar nicht sagen. Ich sehe alles nur mit meinen Augen.“ Für einen kurzen Zeitraum haben sie sich in ihren beiden Leben dort getroffen, wo sie sich als äußerlich gleiches Paar gegenüberstehen. In jedem Liebesfilm wäre diese Szene sinnig und durchschnittlich gewesen. In dem Liebesdrama „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ von David Fincher stellt die Szene eine Außergewöhnlichkeit dar, die das davor Geschehene und das Nachfolgende dem Normalen zuordnen würde. Denn Benjamin Button (Brad Pitt) wird nicht älter wie jeder andere Mensch. Er wird bereits alt geboren und wird im Verlaufe seines Lebens immer jünger. Sein geliebter Mensch Daisy (Cate Blanchett) legt den normalen Lebensweg zurück und dies führt zu der immanenten Tragik, dass der eine dem anderen im Alter immer vor oder zurück ist, bis auf die besagten Jahre in der Mitte des Lebens.
F. Scott Fitzgerald schrieb in den 1920er Jahren die Kurzgeschichte, auf der dieser Film beruht. Eine Frau bekommt am letzten Tag des 1. Weltkrieges ein Kind, das wie ein alter Mann kurz vor seinem Tod aussieht, und stirbt an den Folgen der Geburt. Ihrem Ehemann Thomas Button ist sein Sohn unheimlich, weswegen er ihn auf den Stufen eines Altersheimes in New Orleans ablegt. Dort findet ihn die schwarze Wirtschafterin Queenie (Taraji P. Henson) und nimmt sich seiner an. Sie nennt ihn Benjamin. Jeder der Bewohner rechnet mit seinem baldigen Tod. Doch mit ihm geschieht etwas unglaubliches, er wird immer jünger und gesünder und führt praktisch ein Leben im Rückwärtsgang. Benjamin wächst unter alten Menschen auf, die ihm die Vergänglichkeit immer wieder von neuem vor Augen führen. Eines Tages lernt er das junge Mädchen Daisy kennen, die ihm ein guter Freund wird und für das gesamte Leben sein Schicksal bestimmen wird. Während sie eine erfolgreiche Karriere als Ballett-Tänzerin verfolgt und um die Welt reist, zieht es Benjamin aufs Meer hinaus, wo er auf der Suche nach seiner Bestimmung ist. Dennoch kreuzen sich Benjamins und Daisy’s Wege immer wieder und staunen jedes Mal von neuem über das Altern und Verjüngen des Anderen.
„Der seltsame Fall des Benjamin Button“ ist ein grandioses Werk, wenn auch kein Meisterwerk. David Fincher versucht die Maßstäbe eines Epos an seine Fitzgerald-Verfilmung anzulegen und kommt doch häufiger ins Straucheln. Wohlgemerkt ist das Ausgangsmaterial eine Kurzgeschichte von etwa 20 Seiten, die auf eine Spielfilmlänge von beinahe 3 Stunden ausgewalzt wird. Und das bekommt der Zuschauer auch zu spüren. Nicht selten wirken ganze Szenen redundant und ziehen das Drama ungewollt in die Länge, die selbst die teils wunderbaren darstellerischen Leistungen der Akteure nicht zu füllen vermögen. Es verwundert, dass gerade die Hauptdarsteller ihr schauspielerisches Potential nicht ausschöpfen. Brad Pitt schafft es nicht, Benjamin Button so etwas wie Tiefgang zu verleihen, obwohl diese Figur so viel herzugeben vermag. Von der Wiege bis zur Bahre (oder umgekehrt) verliert Benjamin nichts von seiner kindlich, naiven Ausdrucksweise. Die Menschen, die ihm auf seinem Lebensweg begegnen, berühren ihn nur kurz, hinterlassen aber kaum nachhaltige Spuren. Er betrachtet sie stets wie ein Kleinkind als große Wunder, ohne groß mit ihnen zu Interagieren oder einen Teil ihres Lebens in seins aufzunehmen. Bei Cate Blanchett verfährt es genauso und sie bleibt eher blass als diametrales Spiegelbild ihres Geliebten. Es sind überraschenderweise die Nebenrollen, die das Salz in der Suppe bilden. Eine große Leistung vollbringt Taraji P. Henson als Benjamins Ziehmutter Queenie. Sie spielt diese Rolle burschikos und doch liebevoll und warmherzig. Tilda Swinton brilliert als unterkühlte Millionärsgattin und aufblühende Geliebte des unreifen Benjamins. Ein herrlicher Running Gag sind die regelmäßigen Zusammentreffen des alten Mr. Weathers mit Benjamin im Altersheim, in denen der alte Herr immer wieder die Frage stellt: „Wusstest du eigentlich, dass ich schon sieben Mal vom Blitz getroffen wurde?“ Anschließend folgen Rückblenden im Stil eines Stummfilms, in denen Mr. Weathers entweder während einer Autofahrt oder auf einer Wiese vom Blitz getroffen wird.
Es lässt sich der Eindruck nicht verwehren, dass vieles in diesem Film an „Forrest Gump“ erinnert. Doch wirkt die selbstauferlegte Ernsthaftigkeit und das Ziel, eines der große Dramen für das Kino produzieren zu wollen, erdrückend und verhindert so das lockere und ironische Spiel mit den Möglichkeiten, die die Pralinenschachtel eines Forrest Gump bot. Ohne Zweifel beeindrucken die CGI-Effekte, die auf dem höchsten Stand der Technik sind und die die als unverfilmbar geltende Geschichte erst ermöglichten. Besonders in der ersten Hälfte des Films, die zugleich die stärkste Hälfte ist, erstaunt es, wie das Gesicht von Brad Pitt auf dem kleinen, runzeligen Körper eines 80jährigen erscheint. Auch das Wiederaufleben des New Orleans der 20er und 30er Jahre ist architektonisch gelungen umgesetzt. Als Kostümfilm braucht sich „Benjamin Button“ nicht zu verstecken. Ebenfalls ist der Maske eine großartige Leistung damit gelungen, den Alterungsprozess aller Darsteller glaubwürdig umzusetzen. Zumindest in diesen Kategorien ist dem Film ein Oscar zu gönnen. Doch wenn es dem Regisseur nur mit größter Mühe gelingt, den Plot zusammenzuhalten und die Figurenentwicklung, trotz katharsischer Intention, jeglichen Bruch und Selbstreflexion vermissen lässt, wird die Vergoldung von „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ nicht zu erreichen sein.