Westdeutschland - graue Tristesse liegt über den Wohnhäusern mit ihren regelmäßigen Fassaden, den kleinen Balkonen und den eintönigen Fluren, in denen man seine Wohnungstür nur an der Nummer erkennt. Oder an dem kleinen Namensschild, dass der eifrige Hausmeister in den dafür vorgesehenen normierten Halter steckt. Straßen führen durch gesichtslose Stadtteile und die Autobahnen verlieren sich mit ihren Grünstreifen und den immergleichen Brückentypen in der Anonymität. "Schattenwelt" führt mit seinen nur durch leichte Blautöne angereicherten Schwarz-Weiß-Bildern scheinbar direkt in die 70er Jahre zurück und damit in ein Deutschland, dass von der Aufbauleistung nach dem Krieg gezeichnet ist. Doch der Film spielt in der Gegenwart und beginnt mit der Entlassung von Bernd Widmer (Ulrich Noethen) aus dem Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Es ist der Schatten der 70er Jahre, der immer gegenwärtig bleibt.
Diese Zusammenhänge entwickelt der Film nur langsam. Nur durch einen Radiobericht aus dem Off und aus dem großen Interesse der Journalisten ist zu erahnen, dass mit Widmer nach über 22 Jahren ein ehemaliger RAF-Terrorist entlassen wurde. Auch aus dem Dialog mit seiner Anwältin (Tatja Seibt), die ihn zu einem gesichtslosen Wohnhaussilo fährt, in dem er eine Wohnung erhält, sind keine Details zu erfahren. Nur Widmers allgemeine Unzufriedenheit und der Wunsch nach einer Adresse, der ihm verweigert wird, sind herauszuhören.
Ähnlich rätselhaft wird auch Valerie (Franziska Petri) eingeführt. Gerade hatte sie Sex mit einem deutlich älteren Mann (Uwe Kockisch) in ihrer kleinen, unaufgeräumten Wohnung, der ihr offensichtlich Spaß gemacht hatte. Weniger erfreulich verlief dagegen das Treffen mit ihrem etwa 12jährigen Sohn, der danach in das Auto von Pflegeeltern steigt. Als sie wieder in ihr Wohnhaus zurückkehrt, wird deutlich, dass sie die Nachbarin von Bernd Widmer ist. Es kommt zu einer unmittelbaren Begegnung zwischen ihnen, weil sie mit verschmierten Händen vor seiner Wohnungstür steht und ihn um Hilfe bittet. Sie hatte das gerade gekaufte Speiseeis vor seiner Tür fallen gelassen. Mürrisch gibt er ihr etwas, damit sie ihre Hände abwischen kann, aber das Speiseeis wird sie – gegen ihre Ankündigung – nicht mehr wegwischen.
Auffällig an der Handlung des Films ist der bleibende Eindruck des Ungefähren und Undeutlichen, auch wenn zunehmend Details hinzugefügt werden. Nicht ohne Grund kopiert „Schattenwelt“ auch in seiner optischen Inszenierung den in seiner grafischen Wirkung bewusst karg gehaltenen, ruhigen Stil des deutschen Films der 70er Jahre, unterstützt von einem sparsamen Score, der neben ein paar Tönen nur auf „Spoon“ von „Can“ zurückgreift und damit direkt Filme wie „Ein großer graublauer Vogel“ von Schamoni oder „Deadlock“ von Roland Klick, zu denen Can 1970 die Filmmusik schrieb, zitiert, abgesehen davon, dass „Spoon“ 1971 für den Fernsehkrimi „Das Messer“ komponiert wurde. Durch diese Zurückhaltung in der Inszenierung liegt das Gewicht auf den Protagonisten Valerie und Bernd, die von Franzika Petri und Ulrich Nöthen eindringlich dargestellt werden. Letztlich sind es ihre Gesichter, die die Abläufe widerspiegeln, und klarer als sie selbst wird auch der Film diese nicht erfassen.
Als sich die beiden auf Bewährung befindlichen Verurteilten zusammentun, um seinen Sohn zu besuchen, den dieser seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte, da seine frühere Freundin und Mutter (Eva Renzi) des Jungen den Kontakt unterbunden hatte, entsteht einen Moment der Eindruck eines Road-Movies, aber Valerie zerstört schnell eine mögliche Idylle – sie ist die Tochter des Gärtners, der bei einem Überfall der RAF versehentlich getötet wurde, und sie möchte von Bernd, der als Haupttäter gilt, die wahren Hintergründe erfahren.
Damit befindet sich „Schattenwelt“ trotz seiner die Vergangenheit hervorrufenden Optik mitten in der Gegenwart. Bis heute konnten die meisten RAF-Verbrechen nicht in ihren genauen Abläufen erfasst werden, auch wenn die Täter rigoros verurteilt wurden, weshalb sie kein Interesse an einer lückenlosen Aufklärung haben, was auch Bernd Widmer impliziert, als er sagt, dass er seine Zeit sowieso abgesessen hätte, egal ob er den Mord selbst ausgeführt hätte oder nicht. Der Film begeht glücklicherweise nicht den Fehler, aufklärend tätig werden zu wollen, sondern konzentriert sich viel mehr auf ein Thema, dass trotz des zuletzt großen Medienspektakels im Zusammenhang mit Eichingers „Bader-Meinhof-Komplex“ auch von der breiten Öffentlichkeit vergessen wird – den zufälligen Opfern, die das Pech hatten, in der Nähe der als Zielperson auserkorenen Prominenten zu agieren. Auch Widmer erwähnt mehrfach gegenüber Valerie, dass deren Tod gar nicht gewollt gewesen wäre, als ob diese Tat damit weniger verwerflich wäre.
„Schattenwelt“ entwickelt ein Bild einer allgemeinen Zerstörung, dass nur Opfer kennt, auch wenn sie unterschiedliche Rollen spielten. Weder eindeutige Schuldzuweisungen noch Entschuldigungen liefert der Film dafür und kann damit mehr als jeder eindeutig politische Film vermitteln, dass Mittel der Gewalt - egal für welche Ziele - niemals gerechtfertigt sind. Nöthen gelingt es neben seiner knorrigen Art, im fast stoischen Verdrängen eigener Schuld die dahinter liegende Schwäche aufzuzeigen, die ihm Sympathie einbringt, ohne ihn deshalb freizusprechen, genauso wie Petri so viel Gewalttätigkeit und Härte mitbringt, dass man ihr verpfuschtes Leben nicht einzig dem Fakt zuordnet, dass sie Zeuge des Todes ihres Vaters wurde. Auch in den Charakterisierungen vermeidet der Film Eindeutigkeiten.
Selbst wenn „Schattenwelt“ die Handlung in seiner zweiten Hälfte zuspitzt und es zu dramatischen Auswirkungen kommt, vermittelt der Film deshalb nicht mehr Klarheit. Im Gegenteil endet er offen, ohne eine kathartische Wirkung für die Beteiligten, was noch zusätzlich durch die sperrige, Identifikationen mit den Beteiligten vermeidende Inszenierung betont wird. Der Film stellt Fragen, die er nicht beantworten will und kann, die aber beim Betrachter nachwirken sollen. Für das genaue Verständnis dieses Films ist es sicherlich notwendig, die historischen Zusammenhänge zu kennen, aber letztlich behandelt „Schattenwelt“ ein Thema, dass auf jeden gewalttätigen Akt unter dem Deckmäntelchen der politischen Zielsetzung zutrifft (8/10).