„Die Marines in Guantanamo sind Fanatiker!“
Der US-amerikanische Filmemacher Rob Reiner sollte keinesfalls auf Komödien wie „Der Volltreffer“ oder „Harry & Sally“ reduziert werden. Mit „This is Sp?n?al Tap“ schuf er die Rock-Mockumentary schlechthin, „Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers“ ist eine sensible Non-Horror-Stephen-King-Verfilmung und „Misery“, Reiners zweite King-Verfilmung, ein Psycho-Thriller par excellence. Zwei Jahre nach Letztgenanntem, im Jahre 1992 also, bewies Reiner gar sein Geschick für einen trotz Mainstream-Ausrichtung recht anspruchsvollen Justiz-Thriller im Militär-Milieu, als er mit „Eine Frage der Ehre“ das gleichnamige Theaterstück Aaron Sorkins verfilmte, der auch das Drehbuch verfasste.
„Sie können die Wahrheit doch gar nicht vertragen!“
William Santiago ist tot. Der junge Nachwuchs-Marine starb nach mehreren Verlegungsgesuchen auf dem US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay, nachdem ihn seine Kameraden Dawson (Wolfgang Bodison, „The Expert“) und Downey (James Marshall, „Down“) misshandelt und ihm einen Lappen in den Mund gesteckt hatten. Beide werden vor dem Militärstrafgericht angeklagt, Santiago ermordet zu haben, um ihn davon abzuhalten, ein Fehlverhalten Dawsons zu „petzen“. Dawson und Downey jedoch sprechen von einem sog. Code Red, einem konspirativen Strafbefehl zu Disziplinarmaßnahmen gegen einen vermeintlich unkameradschaftlichen Marine. Als Pflichtverteidiger werden den beiden der junge Navy-Anwalt Daniel Kaffee (Tom Cruise, „Die Outsider“) und Joanne Galloway (Demi Moore, „St. Elmo's Fire“) zugewiesen. Kaffee verfügt über keinerlei Erfahrung vor Gericht, sondern ist in seiner erst neunmonatigen Anwaltskarriere für als „Kuhhandel“ bezeichnete Urteilsabsprachen bekannt. Sam Weinberg (Kevin Pollak, „Wayne's World 2“), Kaffees Kamerad und Kollege, ist der Dritte im Bunde der Verteidigung. Galloway wirkt auf Kaffee ein, dem Willen der Angeklagten (die sich keiner Schuld bewusst sind) zu folgen und nicht auf eine milde Strafe durch Absprache zu setzen, sondern ihre Version der Vorfälle zu recherchieren und, falls es tatsächlich einen Code Red gegeben hat, die Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen.
„Was haben wir Falsches gemacht?“
Formell beginnt Reiners Film mit ebenso imposanten wie albernen „Domino“-Vorführungen des Militärs, Produkt der Konditionierung junger Menschen zu Befehlsempfängern und entindividualisierten Lebewesen, die zu funktionieren haben. Im Anschluss wird aus Santiagos verzweifeltem Verlegungsgesuch zitiert. In einer kurzen Rückblende lernt man den zynischen Colonel Nathan R. Jessep (Jack Nicholson, „Shining“) sowie den ihn untergebenen Ausbilder Kendrick (Kiefer Sutherland, „The Lost Boys“) kennen und ihren zunächst nicht zu beanstandenden Umgang mit der Situation. Nun führt Reiner seine fortan durch die Handlung führenden Charaktere ein. Demi Moore, insbesondere nach dem schwachen „Tödliche Gedanken“ aus dem Vorjahr, überrascht mit ausdrucksstarker Mimik und intelligenter Ausstrahlung. Tom Cruise als Daniel Kaffee wird als unerfahrener, den Fall nicht ernst nehmender Hallodri eingeführt und bleibt bis zum Schluss in seiner Paraderolle als ekelhafter Sonnyboy und Großkotz – was gesteigertes Nervpotential hat, da er trotz dessen wenn nicht zum Sympathieträger, so doch zum auf der richtigen Seite Stehenden avanciert. Zwischen den Angeklagten herrscht ein interessantes Gefälle: Downey orientiert sich stark an Dawson, blickt zu ihm auf wie zu einem großen Bruder oder gar einer Vaterfigur, scheint unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen und zu verantworten. Insgeheim dürfte sich manch Zuschauer fragen, woraus die Marines eigentlich ihren Nachwuchs rekrutieren...
„Ihr habt keine Ahnung, wie eine Nation zu verteidigen ist!“
Der anfängliche Humor weicht während der ersten Zeugenvernehmung Colonel Jesseps, das Gespräch nimmt einen Umweg über Sexismus und wird zum richtiggehenden Psychoduell. Die Angeklagten wiederum rücken nur zögernd gegenüber Kaffee mit der Sprache heraus, einen Code Red ausgeführt zu haben, palavern aber umso mehr von unterwürfiger Kameradschaft, Treue, Ehre und Loyalität als Teil eines militärischen Ehrenkodex; eine Fehlinterpretation all dieser gemeinhin positiv konnotierten Begriffe als Resultat einer Gehirnwäsche, wie sie bei der Ausbildung von Elitesoldaten anscheinend System hat und von „Eine Frage der Ehre“ deutlich kritisiert wird. Wer einen trockenen, steifen Gerichtsfilm befürchtet hat, wurde bis jetzt Lügen gestraft, denn hier knistert es in jedem Dialog und erst nach 55 Minuten geht es überhaupt erstmals vor Gericht. Nach diesem kurzem Intermezzo will Kaffee eigentlich hinschmeißen, doch geht ihm schließlich ein Licht auf und er begreift, dass eine richtige Gerichtsverhandlung verhindert werden sollte, man deshalb ausgerechnet ihm den Fall zuspielte. Offensichtlich soll etwas vertuscht werden. Nun nimmt der justizielle Anteil richtig an Fahrt auf und die zweite Hälfte des Films spielt tatsächlich zu großen Teilen im Gerichtssaal. Der militärische Befehlsgehorsam wird kritisch hinterfragt und spätestens jetzt kristallisiert sich für jeden nachvollziehbar heraus, dass die Jungmarines als Sündenböcke und Bauernopfer herhalten sollen.
Doch auf Guantanamo wird ein Glied (J.T. Walsh, „In einer kleinen Stadt“) der konspirativen Kette schwach, meldet sich als Zeuge und gibt Rechtsbrüche zu – zum Unmut des gewissenlosen Regierungsvertreters der Anklage Captain Jack Ross (Kevin Bacon, „Sleepers“). Jener Zeuge jedoch beweist kurze Zeit später, wie er Ehre, Loyalität und alle diese hochtrabenden Begriffe für sich persönlich interpretiert und verleiht dem Fall zusätzliches fatales Gewicht. Im Laufe der von Reiner dramaturgisch geschickt und bei aller gebotenen Sachlichkeit doch emotional mitreißend und spannend inszenierten Gerichtsverhandlung kommt es zu Kompetenzgerangel und Eitelkeiten. Auf ihrem Höhepunkt ist die Luft zwischen Jessep und Kaffee schließlich zum Schneiden und Nicholson beweist nicht nur einmal mehr, warum er zu den charismatischsten Schauspielern unserer Tage gehört, sondern bekommt auch schwer im Magen liegende Aussagen in den Mund gelegt, die Einblicke in die Psyche und das Selbstverständnis eines alten Haudegen ermöglichen, der tatsächlich glaubt, in dem, was er tut, die Freiheit zu verteidigen und Leben zu retten. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit man in Anpeilung des Massenmarkts hier auf Nummer sicher gehen wollte, indem man immerhin die Möglichkeit offenlässt, dass der reaktionäre Zuschauer diesen Einzelfall zwar verurteilt, grundsätzlich aber noch zustimmend nicken kann. Besser gefällt mir meine Interpretation, dass man Jessep Unausgesprochenes aussprechen lässt, um das Publikum offen damit zu konfrontieren und zur selbständigen Reflektion aufzurufen, zur Auseinandersetzung mit dem Nationen-, System- und Mächtegeflecht, Rolle und Sinn von Grenzen, Militär etc. und dem dafür gezahlten Preis – und inwieweit das letztlich dann eben doch jeden einzelnen etwas angeht. Wie dem auch sei, mich hat der Ausgang des Films ergriffen und die Art und Weise, auf die Reiner es schafft, Spannung zu erzeugen, obwohl es ab einem gewissen Punkt „nur“ noch darum geht, wie man die Hintermänner überführt und den falschen Kodex des Schweigens bricht, ist eine dramaturgische Meisterleistung, die mich an die gute alte „Columbo“-Schule erinnert.
Nicht hinwegsehen kann ich jedoch über den einen oder anderen Kritikpunkt. Tom Cruise' nervendes Auftreten kann ich noch wohlwollend als Verweis Reiners darauf verbuchen, dass es eben nicht um Sym- oder Antipathien, sondern um Gerechtigkeit geht, der im Zweifelsfall auch jemand wie Kaffee zum Sieg verhelfen kann. Als unnötiges Beiwerk aber empfinde ich Kaffees zwischenzeitlich thematisierten Vaterkomplex. Immerhin wird auf eine Romanze zwischen Kaffee und Galloway verzichtet, auch wenn es immer mal wieder eine andere Tendenz zu nehmen scheint. Chauvinistisch und unglaubwürdig wirken dennoch Details auf mich wie das plötzliche Aufbrechen Kaffees und Weinbergs ohne Rücksprache mit Galloway, woraufhin es ohne ein erneutes Gespräch direkt in die Verhandlung geht und auch beim anschließenden Aufeinandertreffen dieses Verhalten anscheinend überhaupt kein Thema ist. So zielführend die aufreibende, engagierte Arbeit der Junganwälte auch wirkt, eine überhastete Vorgehensweise wie diese würde wohl nicht nur zu schweren Konflikten untereinander, sondern auch kaum zum gewünschten Erfolg führen; vielmehr machen diese Momente den Eindruck eines überhastet aufs Finale hin konstruierten Films oder eines ungeschickten Schnitts auf mich. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch das kitschige Ende, mit dem sich der Film meines Erachtens keinen Gefallen getan hat. Dennoch: Dieser kritische Blick aufs US-Militär ist überwiegend gut gelungen, weil brisant, enttabuisierend und Fragen nicht nur beantwortend, sondern auch aufwerfend, und das in Form spannender, ansprechender Unterhaltung. Da fühle ich mich fast genötigt, vor Reiner und Sorkin zu salutieren.