Review

„You can't get an address without an address, you can't get a job without a job."

**** Achtung, SPOILER ****

Schwer, über einen Lieblingsfilm zu sprechen. WENDY AND LUCY. Ein großer, „kleiner" Film.Wendy (Michelle Williams) ist unterwegs durch die USA. Penibel führt sie Buch über ihre wenigen Dollar, die genau so eingeteilt sind, dass sie mit ihnen nach Alaska kommt. Zusammen mit ihrer Hündin Lucy reist und lebt sie in einem alten Honda. In Alaska soll es Jobs in einer Fischfabrik geben. Eine Fischfabrik als gesegnetes Land... Doch auf dem Weg, mitten im Niemandsland (d.h. in einer dahinsiechenden Kleinstadt in Oregon), gibt das Auto seinen Geist auf. Was für normale Autofahrer nur eine lästige Störung der Routine ist, das Umgewöhnen auf den Leihwagen eines servilen Autohändlers, ist für Wendy der Beginn einer katastrophalen Pechsträhne.

Um Geld zu sparen, das sie für die Reparatur braucht - eigentlich nur ein paar Dollar, die aber Wendys Existenz zu kosten drohen - nimmt sie im Supermarkt, ohne zu zahlen, Hundefutter mit. Ein übereifriger Jungspund-Angestellter riecht ihre Schwäche. Im Dritten Reich hätte er wohl ebenso bedenkenlos Juden denunziert, jetzt stellt er sicher, dass sie bestraft wird. Wer schon Opfer ist, kann erst recht getreten werden: „They can smell the weakness on you." Nachdem Wendy Stunden bei der Polizei verwarten musste, ist die Hündin Lucy verschwunden, die Wendy ordentlich vor dem Laden angebunden hatte. Nach einer traumatischen Nacht unter freiem Himmel sucht Wendy weiter verzweifelt nach der Hündin. Ein alter Wachmann, dessen Job es zuvor war, sie von einem Firmenparkplatz zu verscheuchen, hat als einziger Mitleid. Er stellt ihr seine Handy-Nummer zur Verfügung, damit Wendy vom Tierheim angerufen werden kann. Wieder bekommt eine Lappalie, hier ein Telefon, an dessen Besitz „normale" Menschen kaum einen Gedanken verschwenden, existentielle Bedeutung. Wo ein altes Auto, ein Telefon, eine Dose Hundefutter, zerknüllte Eindollarscheine so wichtig werden, daß eine Existenz davon abhängt, wie ist es dann um den Wert von Menschen bestellt?

Ohne Sozialromantik schafft die Regisseurin Kelly Reichardt, die schon mit Hal Hartley und Todd Haynes gearbeitet hat, ein Bild des Kapitalismus nach „Katrina", in dem selbst die Ärmsten noch tiefer sinken können. Michelle Williams, zuvor nur in „Brokeback Mountain" aufgefallen, spielt authentisch und kraftvoll, gleichzeitig völlig unspektakulär, die junge Frau, die sich trotz aller Widrigkeiten um Würde, Stolz und Überleben bemüht. Kein Wunder, daß sie inzwischen mit „Blue Valentine" Erfolge feierte und dann ausersehen wurde, die Pop-Ikone Marilyn Monroe zu spielen. („My Week with Marilyn", natürlich viel aufwendiger, natürlich viel weniger berührend.)

WENDY AND LUCY ist ein „kleiner", ruhiger Film. Doch für Spannung ist keine „Größe" auf den ersten Blick nötig, kein Lärm und kein Tempo. Spannend kann schon sein, dem Leben zuzusehen [Sorry, Allgemeinplatz!], erst recht aber, wenn eine existenzielle Krise herrscht. Die Frage, wie Wendy sich behaupten wird, ob sie aufgeben wird, das macht WENDY AND LUCY so intensiv. Stehen wir nicht alle täglich vor dieser Frage? Lassen wir uns unterkriegen? Wird Wendy weiterleben? Wie?

Und kein Netz zu haben, wie Wendy, macht es noch leichter, unterzugehen.

Der Film atmet den „Independent Spirit", sowohl der Film als Teil dieses Genres, als auch seine Geschichte, die von den „Unabhängigen" handelt - hier können wir sie aber auch „Die Abgehängten" nennen. Menschen abseits der Gesellschaft. Die Figuren leben im Abseits. Menschen am Lagerfeuer, Waldbewohner, die auf Züge aufspringen, der alte Türhüter vor den Toren des Supermarkts, Wendy und Lucy, die im Freien leben. Dagegen gesetzt sind die Gefängnisse des Tierheims, des Supermarkts, der Polizeiwache, des Waschraums, des trauten Heims: Gitter, Zäune, Uniformen und Wächter. Die Insignien der Zivilisation. Telefone als ständig gefährdetes Verbindungsglied. Auch das Auto bricht rasch zusammen. Bedrohlich, der zweite Türhüter: Der Mechaniker, der über kryptische Kenntnisse verfügt, um das Auto wieder flott zu kriegen, aber dafür Unmögliches verlangt.

Der Abstieg in eine prekäre Existenz ist leicht. Sogar aus der Mittelklasse kann man leicht zu Wendy werden. Eifer, Entschlossenheit und sorgfältige Planung genügen nicht. Reichardt und Williams schaffen es, unsere Distanz zu Wendy zu verhindern. Denn niemals benimmt sich ihre Wendy daneben. Sie benimmt sich „normal", vorbildlich, brav, ohne jedes Aufbegehren. Sie möchte dazu gehören, sie könnte genauso in dem Reihenhaus am Ende des Films leben, wie die echten (unsichtbaren) Bewohner. Oder sie könnte in einem Reihenhaus unserer deutschen Kleinstadt leben. Sie erfüllt all die Anforderungen, die von ihr, die von uns erwartet werden. In der Öffentlichkeit bleibt sie praktisch immer gefasst, angepasst, versucht, nicht aufzufallen. Sie plant ihr Leben, ist arbeitswillig, beherrscht und ruhig. Wozu sie auch Lucy ermahnt, als Lucy einmal zu bellen anfängt. Doch all das nützt nichts. Ihr Makel ist die Armut. Ihr Makel bleibt. Eine Erinnerung an FAHRRADDIEBE, klassischer italienischer Neorealismus, in dem ein Mann, ein ebenso braver Bürger wie Wendy, um ein Leben in Würde kämpft. Doch er hatte wenigstens eine Familie, eine Stadt, die ihm Heimat gaben. Sogar das hat Wendy verloren. Schon zu Beginn.

So ist es dann folgerichtig *** SPOILER !!! *** dass Wendy Lucy bei den anonymen Hausbesitzern lässt: Wendy kann kein Heim, keinen Halt, keine Hoffnung bieten. Diese Tat hat herkulische Größe: Sie gibt weg, was sie liebt, damit Lucy ein besseres Leben hat. Sie selbst gibt damit ihren letzten Halt im Leben hin. Das ist wie Christus, der sich für die Menschheit opfert, wie Jacks Todesszene in TITANIC, wie Ritter Blok im SIEBTEN SIEGEL, der den nahenden Tod von den Schaustellern ablenkt, das ist wie das „Lasst mich zurück! Ich schaffe es nicht mehr! Ihr seid besser dran ohne mich!" in zahllosen Actionfilmen, wo es jedoch nur noch Klischee ist, ohne die Kraft, emotional zu berühren. [Hoppla, ich werde wieder pathetisch, sorry, I got carried away.] Dem FAHRRADDIEB gab Regisseur de Sica am Ende wenigstens noch seinen Sohn an die Seite, aber Kelly Reichardt versagt uns sogar diese Utopie. WENDY AND LUCY leben 60 Jahre später, Wendy ist selbst das traurige Kind, doch ohne Verbindung: ohne Eltern, und am Ende auch ohne Hund.

Details
Ähnliche Filme