1. Ein Dorn steckt in Adems Finger
Kurz nach der Einblendung des Filmtitels, nach nur wenigen Sekunden Film, erscheint dieser Satz, der nahelegt, dass dieser Kurzfilm in mehrere Akte gegliedert ist. Das ist schon einmal ungewöhnlich bei einem 16-Minüter, der von scheinbar unüberwindbaren Differenzen zwischen der jungen, in Deutschland lebenden Generation und der elterlichen Generationen von Türken handelt, die sich bisher in Deutschland noch nicht anpassen konnten.
Meryem (Sema Poyraz) besucht ihren Architektur studierenden Sohn Adem (Ismail Sahin) in dessen Wohnung in Berlin. Allerdings ist das Verhältnis von vornherein gestört, Adem fühlt sich von der Anwesenheit seiner Mutter von Beginn an genervt. Tradition und Moderne prallen aufeinander als die Mutter Adem fragt, ob er eine Freundin habe oder Kondomverpackungen im Badezimmer findet. Dieses gegenseitige Unverständnis offenbart sich noch deutlicher in
2. Meryem will zum Fernsehturm.
Nach einer unbequemen Nacht auf der Couch muss Adem zur Uni, Meryem will aber den Fernsehturm besichtigen. Daraufhin fühlt sich Meryem von ihrem Sohn schon wieder vertröstet und veräppelt. Als herauskommt, dass Adem keine türkischen Kanäle mehr auf dem Fernseher hat, wird noch deutlicher: Adem, der beinahe ausnahmslos auf deutsch mit seiner türkisch sprechenden Mutter kommuniziert, hat sich von seinen türkischen Wurzeln distanziert, ist der westlichen Welt und seinen Werten (was man auch an seiner im IKEA-Stil eingerichteten Wohnung erkennen kann) zugewandt. Und so kommt es zu einem noch größeren Missverständnis im nächsten Teil:
3. Adem muss sein Modell bauen.
Meryem hat ohne Adems Zustimmung einige Leute der Nachbarschaft in seine Wohnung eingeladen und dieser ist alles andere als erfreut. Zusehends regt sich der Groll in Adem gegen seine Mutter, die in
4. Meryem braucht Milch.
ein Kapitel der Familiengeschichte um die Anfänge in Deutschland nach der Emigration aus der Türkei aufschlägt, indem sie Adems Modellarbeiten kommentiert. Doch spätestens in
5. Adem geht Milch kaufen.
kommt es schließlich zum endgültigen Bruch von Adem mit der türkischen Tradition. Auf dem Nachhauseweg vom Einkauf wird er von einem angeblichen Jugendfreund angesprochen, dem er versucht, so schnell wie möglich aus dem Weg zu gehen. Doch dieser spricht weiter über gemeinsame Kindheitserinnerungen und nachdem Adem die Beleidigung der Mutter seines Kumpels aus Kindertagen zugibt, wird er mit einer Ohrfeige zurecht stutzt. Als Adem das von seiner Mutter vor Jahren in einer deutschen Fabrik hergestellte Geschirr vom Küchentisch schmeißt, scheint der Bruch auch in seiner buchstäblichen Ebene vollendet. Meryem fährt schließlich in
6. Adem zieht den Dorn aus dem Finger.
wieder zum Flughafen. Es war ein kurzer Besuch, der Adems Verleugnung der eigenen Wurzeln wieder deutlich machte und sein längst begraben scheinendes mangelndes Verständnis für die an und für sich eigene Kultur wieder aufwühlte. Mutter und Tochter sind sich fremd in einem Land, das einmal ihre Heimat werden sollte, aber nicht werden konnte. Warum wird nicht geklärt.
Hakan Savas Mican verarbeitete mit Fremd (Yaban) seine eigene Geschichte: Geboren in Berlin wuchs er in der Türkei auf, um schließlich zum Studium der Architektur und später der Regie an der Deuschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) nach Deutschland zurückzukehren. Den culture clash, welchen er hier jedoch thematisiert, geriet allzu plump und reizt die Konstellation zwischen der warmherzig-fürsorglicher Mutter und dem von der türkischen Kultur distanzierten, missmutigen Sohn klischeehaft aus. Die Einteilung des Films in die beschriebenen sechs Teile erweist sich durch seine Banalität in der Redundanz der Beschreibung der Geschenisse als prätentiöses Mittel eines wenig originellen Drehbuches, das zwar das lobenswerte Thema des Fremd- und Entfremdet-Seins anschneidet, aber dabei die angebrachte Authentizität bei der Umsetzung vermissen lässt und nicht durchdringend genug ausführt.
Insbesondere Ismail Sahin in seiner Rolle als Sohn ist durch die latent aggressive und distanzierte Art seiner Figur wenig authentisch und wirkt zudem unsympathisch. Sema Poyraz spielt die überfürsorgliche Mutter zu klischeehaft und die gezeigte Analogie zwischen dem Stachel im Finger und der Ankunft bzw. Abfahrt der Mutter lässt den Schluss zu, dass Mican - der sich auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet - in seinem Film die Botschaft vermitteln will, dass gerade durch die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit und Kultur (zumindest) der Eltern Wunden aufgerissen werden, die nicht körperlicher, sondern seelischer Natur sind und man dies gänzlich unterlassen und nach vorn blicken sollte. Dass man den Eindruck dieser Vergangenheit, die Protagonist Adem durch seine Fixiertheit auf das Jetzt und die Zukunft verleugnet, jedoch nur durch Dialoge vermittelt bekommt, nimmt dem Film viel von seiner Aussagekraft und - auch in Bezug auf das Handeln von Adem - seiner Plausibilität.
Fremd (Yaban) ist ein Film, der viel zum Diskurs um Generationenkonflikt, Migration, Globalisierung etc. beitragen möchte, aber diese lobenswerte Intention durch platte Psychologisierungen und Stereotypen (der „Wiederhersteller" der Ehre der eigenen Familie, der Adem eine Ohrfeige verpasst, sei hiermit besonders angesprochen) nie wirklich erreicht. Der interkulturelle Dialog wird durch diesen Film nicht wieder angestoßen, sondern es werden nur Probleme wiederholt, die schon bekannt waren - und das auf einem Wege, der nicht anders als als prätentiös und bieder bezeichnet werden kann. Subjektives Erleben des Regisseurs und Drehbuchautors sowie Verarbeitung eigener Erfahrungen hin oder her - es wäre bei Weitem mehr drin gewesen (5/10).