Selten umschrieb ein Titel schon die gesamte Handlung, denn um nichts anderes geht es in diesem Film. Von der Ankunft der Gäste, über den Vortag mit seinen Vorbereitungen und dem abendlichen Familienfest bis zur eigentlichen Hochzeitsfeier verläuft der Erzählstrang von "Rachels Hochzeit", der mit dem Abschied der Gäste wieder ausklingt. Es gibt keine parallelen Handlungsstränge, keine Rück- oder Ausblicke. Alles wird aus der Sicht von Rachel (Rosemarie DeWitt) und ihrer Schwester Kym (Anne Hathaway) beschrieben, nur mit der Handkamera eingefangen und ausschließlich mit Musik untermalt, die direkt von den zur Hochzeit eingeladenen Musikern gespielt wird.
In seiner Formsprache erinnert Jonathan Demmes "Rachels Hochzeit" an die "Dogma-Filme", wenn auch etwas gefälliger in der Ausleuchtung und im Schnitt. Besonders Wintherbergs "Das Fest" wirkt vorbildhaft, da hier ebenso (wenn auch zum Geburtstag des Vaters) der Familienclan für wenige Tage zusammen kommt, was erwartungsgemäss zu Spannungen führt. Während im "Fest" der lange verdrängte Missbrauch des Vaters zum Vorschein kommt, konfrontiert hier die Figur der Schwester Kym. Diese durfte für das Fest ein paar Tage aus der Reha-Klinik, in der sie wegen ihrer Drogen- und Alkoholsucht einsitzt.
Leider griff Demme auf diese klischeehafte Konstellation zurück, bei der es sich nur um eine Konzession an das Publikum handeln kann, um dem Film über seine sonst alltägliche Beschreibung eines Familienfestes hinaus, etwas Thrill mitzugeben. Was hier nach der übliche Konfrontation der sauberen amerikanischen Familie durch das "Schwarze Schaf" klingt, das lange verkrustete Strukturen aufbricht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als sehr genaue menschliche Studie, die diesen plakativen Überbau nicht benötigt hätte.
Tatsächlich findet hier keinerlei Verdrängung statt. Stattdessen beschreibt Demme eine unaufgesetzte multikulturelle Familienstruktur, in der es weder Bösewichter noch besondere Gutmenschen gibt. Gut ist das auch darin zu erkennen, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Schwestern unmittelbar nach Kyms Ankunft beginnen. Rachel reisst sich nicht lange zusammen, sondern beklagt sofort die angebliche Sonderstellung ihrer Schwester, die sie sogar an ihrem Hochzeitstag in das zweite Glied zu versetzen droht, weil diese gerne ihr Leiden in den Mittelpunkt stellt. Selbst der Tod des kleinen Bruders, an dem Kym unmittelbar Schuld trägt, wird schnell thematisiert und keineswegs verdrängt.
Aufbrechende Strukturen und sich daraus ergebende Explosionen, haben immer auch den Charakter von Reinigung und Erlösung. Doch genau diese bietet Demme hier nicht an. Viel mehr beschreibt er eine Situation, die nicht zu lösen ist, sondern mit der man nur zu Leben lernen kann. Deutlich wird das zum Beispiel in dem Moment, als eine heftig zu werdende Diskussion von Rachel damit beendet wird, dass sie verkündet, schwanger zu sein. Während sich alle Beteiligten freuen, ist Kym empört, dass Rachel ihr Gespräch so unterbindet. Diese Szene ist signifikant für den Film, denn Rachels Reaktion unterwirft keineswegs eine eventuell fruchtbare Diskussion unter ein übliches Freudenszenario, sondern beschliesst ein Gespräch, das keine Lösung gefunden hätte.
Die in "Rachels Hochzeit" geschilderten Probleme sind abseits von Kyms Drogensucht und dem Tod des kleinen Bruders von alltäglichster Qualität. Der bemühte, liebevolle Vater, der von seiner jüngeren Tochter der Kontrolle und seiner älteren Tochter der Vernachlässigung bezichtigt wird, die von ihm geschiedene Mutter (Debra Winger), die ihr eigenes Leben führen möchte und nicht mehr wirklich am Familienleben teilnehmen will, die ältere Tochter, die einfach nur eine schöne Feier haben will und Kym, die einerseits im Mittelpunkt stehen will, andererseits sich in ihrer Rolle als Aussenseiter fühlt. Gerade in dieser Normalität, die nicht durch extreme Verhaltensformen gebrochen wird, liegt die eigentliche Qualität des Films und letztlich sein tragisches Potential.
Dieses entfaltet er besonders in den Momenten, die am wenigsten den filmischen Regeln einer schnell vorgetragenen Handlung oder eines Spannungsaufbaus entsprechen. Die sehr lange Szene, in der Jeder Einzelne seinen Toast auf das Brautpaar vorträgt, ist ebenso verräterisch wie die Hochzeitsparty nach der Trauung. Der Film hält dokumentarisch fest wie die Feier immer mehr abklingt, immer weniger Menschen daran teilnehmen bis die Protagonisten mit sich allein sind. Letztlich muss jeder für sich allein mit seiner Situation fertig werden und auch wenn die Feier besonders laut und fröhlich war, kommt irgendwann der Moment, in dem man dieses allein für sich reflektiert.
Nicht Kym, die von Anne Hathaway überzeugend gespielt wird, sondern Rachel steht hier im Mittelpunkt - die glückliche Frau, die gerade einen tollen Mann geheiratet hat und ihr erstes Kind erwartet. Selten hat ein Film deutlicher werden lassen, dass alle diese schönen Dinge nicht davon ablenken können, dass man letztlich mit sich allein ist - der Blick in Rachels Augen, als sie das Ende der Feierlichkeiten beobachtet, macht dieses Gefühl erfahrbar.
"Rachels Hochzeit" ist ein bemerkenswert anstrengender Film geworden, der bis auf die Figur der Kym nur wenig Konzessionen an die übliche Erwartungshaltung an einen Film macht. Voraussetzung ist aber eine gewisse Fähigkeit zur Selbstreflexion beim Betrachter, denn ein blosses Ansehen des Films ohne Einbeziehung persönlicher Erfahrungen, wird nicht funktionieren. Dann ist eine Ablehnung des Film vorprogrammiert (8/10).