Wenn Marc (August Diehl) bei Wanda (Marleyda Soto), die einen kleinen Laden innerhalb eines dicht besiedelten und ärmlichen Stadtteils der kolumbianischen Stadt Cali betreibt, gemeinsam mit Straßenkindern an einem Tisch sitzt oder mit ihnen Fußball spielt, dann erfüllt das die romantische Idee der Klassen - und Länder - übergreifenden Freundschaft. Angesichts der lachenden, spielenden und miteinander kommunizierenden Menschen scheinen sich die Unterschiede zu verwischen.
Marc ist nach Kolumbien gekommen, um dort ein Jahr lang in einem Krankenhaus zu arbeiten. Der angehende Mediziner hatte sich für sein praktisches Jahr bewusst für den sozialen Brennpunkt der als Drogenumschlagplatz berüchtigten Stadt entschieden, um etwas vom „wirklichen“ Leben mitzubekommen. Der frühe Tod seines Vaters, der immer nur gearbeitet hatte, führte dazu, gegen den Willen der Mutter hierher zu kommen. August Diehl gelingt es, den jungen Deutschen ohne übertriebene Verhaltensmuster, aber dennoch entlarvend darzustellen. Es sind Kleinigkeiten, die erkennen lassen, dass Marc mit ganz bestimmten Vorstellungen nach Kolumbien kommt und von Beginn wird „Dr. Alemán“ zu einer teilweise schmerzhaft anzusehenden Dokumentation eines dauerhaften Fehlverhaltens.
Ein Fehlverhalten, dass nicht dem Mangel an Moral oder Erziehung entspringt, sondern einem an Naivität grenzenden Wunsch nach Solidarität mit den Armen und Benachteiligten des Landes. Damit verbindet Marc keine politische Botschaft, sondern repräsentiert eine Haltung, die nicht nur nachvollziehbar, sondern auch nahe liegend ist. Seine authentischen Gefühle, seine Offenheit und Mut paaren sich gleichzeitig mit der Arroganz und Unsensibilität des scheinbar Wissenden. Während er mit den Menschen in den Armenvierteln Kontakt schließen will, geht er geradezu fahrlässig mit den Gefühlen seiner Gastfamilie und seines vorgesetzten Arztes um. Er versteht die inneren Regeln des Landes nicht, lehnt die deutliche Trennung zwischen Arm und Reich und den damit verbundenen Verhaltenskodex ab und wird damit beiden Seiten nicht gerecht. Sein langsames Scheitern wird so vom ersten Moment an spürbar.
Regisseur und Drehbuchautor Tom Schreiber begibt sich mit seinem Film, den er (neben August Diehl) nur mit kolumbianischen Darstellern in spanischer Sprache vor Ort drehte, auf einen schmalen Weg zwischen Vorurteil und Verharmlosung, den er so traumwandlerisch einhält, dass dabei ein sehr ungewöhnliches, schwer fassbares Werk entstand. „Dr. Alemán“ wird keiner Erwartungshaltung wirklich gerecht, was allein an der Beschreibung des Lebens in der kolumbianischen Stadt erfahrbar wird. Hier verbinden sich bekannte Muster der Bandenkriege, der Freundschaft und Liebe, der Verschwendung und Armut, des Engagements und des Desinteresses zu einem Konglomerat, dass gleichzeitig fasziniert und Angst bereitet – man versteht Marcs Wunsch, näher dort hinein finden zu wollen, wie man ihm jede Sekunde zurufen möchte, möglichst den nächsten Flieger Richtung Heimat zu nehmen. Nicht nur, weil man Angst um ihn hat, sondern auch um das innere Gleichgewicht der dort Lebenden, die so freundlich sind, sich auf Marc einzulassen.
Man kann „Dr.Alemán“ Fatalismus vorwerfen oder Bestätigung von Vorurteilen gegen süd- und mittelamerikanische Länder. Schreiber verheimlicht nicht die alltägliche Gewalt und ständige Gefahr, ausgeraubt zu werden, wie er auch den Abends vor dem Fernseher schlafenden Familienvater zeigt, der einerseits zu Gott betet und andererseits Marc umbringen will, als er ihn verdächtigt, seine jugendliche Tochter angefasst zu haben. Oder die Chirurgen beschreibt, die unter für europäische Verhältnisse widrigen Umständen um das Leben ihrer meist angeschossenen Patienten kämpfen, andererseits den Luxus mit Personal, Swimming-Pool und schönen Frauen genießen. Die gesamte Atmosphäre wirkt sexuell und von Drogen aufgeheizt und Marc bekommt nicht wenige eindeutige Angebote, denen er sich auch nur schwer verweigern kann.
Wer diese Schilderungen als einseitig betrachtet und als Akzeptierung eines miserablen Zustands, urteilt aus seiner westlichen Sicht. Wer Marc als verwöhntes Bürgersöhnchen ansieht, dass keine Ahnung hat, wie man sich in solchen Ländern verhält, nimmt eine überlegene Haltung ein, die einer konkreten Überprüfung in einer ähnlichen Situation kaum standhalten würde. Schreiber bietet weder eine Lösung noch Aussicht auf Veränderung an, aber das ist nur konsequent, denn jeder Ratschlag oder auch nur das kleinste Licht am Ende des Tunnels, wäre von unerträglicher Arroganz, angesichts einer Situation, mit der die Menschen hier zu Leben gelernt haben, und deren Abhängigkeiten mit unseren Wertvorstellungen nicht zu lösen sind.
Wer sich einen Moment von seinen üblichen Maßstäben trennen kann, dem bietet Schreibers Film etwas Einmaliges – eine neue Erfahrung, einen Blick in eine unbekannte Welt ohne den üblichen Abstand des neutralen Beobachters. Doch das ist nicht angenehm, sondern hinterlässt den Betrachter mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und Unfähigkeit (9/10).