„Das hier ist das Leben!“
Regisseurin Kathryn Bigelow, die sich mit Filmen wie „Near Dark“, „Blue Steel“ und „Gefährliche Brandung“ einen Namen gemacht hatte, greift 1995 den nahenden Millenniumswahn in ihrem nach einem Drehbuch James Camerons entstandenen Science-Fiction-Action-Thriller „Strange Days“ auf. An den Kinokassen floppte der Film, wurde jedoch im Laufe der Zeit von Filmfreunden und -Kritik wiederentdeckt.
„Paranoia heißt nur, die Realität wirklicher zu sehen als andere!“
Kurz vor dem Jahreswechsel 1999/2000 herrscht auf den Straßen von Los Angeles das Chaos: Die Militärpolizei ist ebenso allgegenwärtig wie die Ghettoisierung der Stadt durch verschiedenste Gruppen. Der ehemalige Polizist Lenny Nero (Ralph Fiennes, „Schindlers Liste“) verdingt sich als Dealer illegaler Squid-Disks, Datenträgern, auf denen reale Point-of-View-Videos inklusive echter menschlicher Gefühle gespeichert sind, die sich die Konsumenten direkt ins eigene Hirn einspeisen lassen. Lenny ist mit der Leibwächterin Mace (Angela Bassett, „Bloody Marie - Eine Frau mit Biss“) befreundet, die in ihn verliebt ist, während er seiner Ex-Freundin Faith (Juliette Lewis, „Natural Born Killers“) hinterhertrauert, die ihn für den Musikproduzenten Philo Gant (Michael Wincott, „Curtains – Wahn ohne Ende“) hat sitzen lassen. Er konsumiert selbst Squid, vornehmlich die gemeinsam mit Faith entstandenen Daten, den Konsum und Handel von Snuff-Squids, mit denen sich der Tod anderer Menschen nachempfinden lässt, lehnt er jedoch ab. Die Prostituierte Iris (Brigitte Bako, „Wilde Orchidee 3“) versucht verzweifelt, mit Lenny Kontakt aufzunehmen und deponiert schließlich eine Squid-Disk in seinem Auto, die die Ermordung des berühmten Hip-Hoppers und sozialen Revoluzzers Jeriko One (Glenn Plummer, „South Central“) durch zwei Polizisten zeigt. Kurz darauf wird auch Iris ermordet, mutmaßlich weil sie Zeugin der Tat war. Lenny fürchtet nun um Faith, da Philo Gant Jeriko Ones Produzent war. Mace versucht, an den Polizeivorsitzenden Strickland (Josef Sommer, „Die Frauen von Stepford“) zu gelangen, um ihm die Aufnahmen zu zeigen. Lenny verschafft sich derweil Zutritt zu Faith‘ Wohnung und findet dort eine Squid-Disk, die Faith‘ vermeintliche Ermordung zeigt. Auch Gant ist mehr tot als lebendig. Welches Spiel wird gespielt, welche Rolle nimmt Faith‘ Leibwächter und neue Affäre Max Peltier (Tom Sizemore, „Blue Steel“), der Lenny bedroht, dabei ein und weshalb soll Lenny als Täter herhalten? Und wird es gelingen, die Killer-Cops zur Rechenschaft zu ziehen und damit einen Bürgerkrieg in L.A. zu verhindern? Der Countdown zum Jahr 2000 tickt unaufhaltsam…
„Du könntest sogar das Arschloch einer Ratte als Ehering verticken!“
1995 dürfte der Beginn des Films mit seiner Point-of-View-Perspektive während eines Überfalls wie einer jener Virtual-Reality-Trips gewirkt haben, wie sie aktuell immer stärker in den interaktiven Unterhaltungsbereich vordringen. Der POV-Porno mit Ex-Freundin Faith, den sich Lenny reinzieht, illustriert dabei eindrucksvoll die mutmaßlich große Hoffnung für den VR-Markt sowohl aus Industrie- als auch aus Konsumentensicht, auch wenn diese nicht allzu laut ausgesprochen wird. Dass die in ihrem Film ausgemalte Zukunft bereits vier, fünf Jahre nach Erscheinen des Films von der Realität eingeholt sein würde, dürfte Bigelow und Cameron bewusst gewesen sein. Dieser Umstand hielt sie jedoch nicht davon ab, diese Dystopie zu zeichnen, da sie nicht allzu weit von unserer Gegenwart fußt. Mordende Bullen nicht nur in L.A., Rassismus und Rassenunruhen, Militarisierung, Ghettoisierung und paradoxerweise immer realitätsnähere Flucht aus der Realität und die Entwicklung echter Gefühle hin zu einem Konsumprodukt waren und sind Themen, Probleme und Phänomene, mit denen sich die Zivilisation auseinanderzusetzen hat und die sie bisweilen bestimmt.
„Das hier sind verbrauchte Gefühle!“
In „Strange Days“ nimmt Bigelow den Mord am Rapper als Aufhänger für einen ungewöhnlich bunten Science-Fiction-Neo-Noir-Thriller, der ohne klassische Helden auskommt (am ehesten könnte man noch Mace als solche betrachten) und ausführlich die Emotionshaushalte und persönlichen Schicksale seiner Protagonisten innerhalb unerfüllter Sehnsüchte, komplizierter Dreieckskonstellationen und einer aufgescheuchten, hysterischen Außenwelt in politisch brisanten Zeiten unter die Lupe nimmt. Die sich aus mehreren Stränge zusammensetzende, recht komplexe Handlung passt dazu und bleibt lange Zeit ebenso undurchsichtig wie manch Rolle. Während Juliette Lewis als Faith die Femme fatale mimt, einen Live-Auftritt hinlegt und sich mehrmals oben ohne zeigt, ist die Beziehung zwischen Mace und Lenny die reinste Hassliebe jener Natur, in der sie weiß, dass die Person von Lennys Sehnsucht ihm nicht guttut, sie eigentlich die ideale Partnerin wäre, doch an seiner Ignoranz, aber auch Ohnmacht, sich seiner nach wie vor starken Gefühle für die „Falsche“ zu erwehren, schier verzweifelt.
Trotz seiner fast 140-minütigen Laufzeit ist das Tempo recht hoch, ein regelrechter audiovisueller Overkill prasselt auf den Zuschauer ein. Optisch ist „Strange Days“ eine Wucht und sicherlich das in dieser Hinsicht Beeindruckendste, das Bigelow und ihrem Team bis dato gelungen war. Dass es dabei über weite Strecken glückte, Neo-Noir-Atmosphäre in Kombination mit dystopischer Stimmung aufrecht zu erhalten, spricht grundsätzlich für Bigelows Gespür, das sie jedoch verlässt, wenn der Film aller Rasanz zum Trotz spätestens im letzten Drittel dann doch überfrachtet und zu lang wirkt und damit eine Überforderung auf beiden Seiten indiziert: Der Regie, Camerons Drehbuch auf Spielfilmlänge zu trimmen oder über längere Distanz kohärent spannend und nachvollziehbar zu gestalten sowie des Zuschauers, seine Aufmerksamkeit weiterhin zu gewährleisten und den Stoff in all seinen Facetten, Verästelungen und Details zu erfassen. Da kann die Pointe dann auch schnell unbefriedigend wirken, wenn man nach über zwei Stunden Durchhaltevermögen ein etwas zu fröhliches, gefälliges Happy End vorgesetzt bekommt, das sich nicht traut, die Revolte in gesellschaftliche Umstürze eskalieren zu lassen, mit allen negativen oder positiven Konsequenzen – denn nach einem Pulverfass, das jeden Moment nicht nur hochgehen könnte, sondern auch sollte, riecht es in „Strange Days“ verdammt oft.
Neben den unbedingt zu erwähnenden guten bis herausstechenden schauspielerischen Leistungen verdient auch die musikalische Untermalung erhöhte Aufmerksamkeit, setzt sie sich doch neben etwas Easy Listening und Hip-Hop aus punkigen und metallischen Stücken von Interpreten wie Skunk Anansie (inkl. Cameo), Testament oder auch Prong mit einer Coverversion des titelgebenden The-Doors-Stücks zusammen.