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Überfall, auf den Boden mit Euch! Aus der Egoperspektive eines Räubers bekommen wir live und direkt mit, wie dessen Gruppe ein Chinarestaurant überfällt. Die magere Ausbeute wird nur damit belohnt, dass die Polizei eine Hetzjagd über die Dächer der Stadt beginnt. Wir sehen den Gangster vor einer tiefen Straßenschlucht zögern, sein Kumpel ist bereits hinübergesprungen und fordert ihn auf, es ihm nachzutun. Gesagt, getan - das letzte, was wir sehen, ist der Asphalt der Straße, der sich in rapider Geschwindigkeit auf uns zubewegt. Der Bildschirm rauscht, aus.

Im Jahre 1999 sind es Clips wie diese, die wegen ihrer ungeheuerlichen Intensität, des "Mitten drin"-Gefühls eine äußerst beliebte, wenn auch eigentlich illegale Unterhaltungsform und Droge geworden ist. Mittels eines futuristischen Headsets und eines kabellosen Discplayers ist es jederzeit möglich, sich ohne Gefahr für das eigene Leben alles anzusehen, was man sich nur vorstellen kann. Sehr deutlich wird hier die Kritik an der Digitalisierung des modernen Lebens, am Abrutschen in irreale Welten, die das eigene Leben zu einem bloßen Mittel zum Zweck degradieren.
So jedenfalls ist es mittlerweile Lenny Nero ergangen, der im LA kurz vor der Jahrtausendwende "Squid"-Discs (wie die Wunderdroge genannt wird) vertickt und natürlich selbst davon abhängig ist. Ein Verlierer der Gesellschaft, Ex-Cop ist er, der sich dank seiner Redegewandtheit und schmierigen Auftretens durch die Misere laviert, die sein Leben darstellt. Einen typischen Helden haben wir mit ihm nicht gerade, auch zum Antihelden fehlt ihm einiges: Seine Ziele wie auch die Mittel, mit denen er sie erreichen möchte, sind alles andere als edel. Auch seine Freunde, einen Privatdetektiv und eine schwarze Chauffeurin und Nahkämpferin, behandelt er wie Dreck. Er nutzt sie aus, ohne ihnen etwas zurückzugeben, weil er weiß, dass sie trotzdem immer wieder aus ihrem Freundschaftsgefühl zu ihm zurückkommen.

Das jedenfalls denkt er; nur haben nahezu sämtliche Personen des Films eine verborgene Seite und zweites Ich, sodass man sich selten sicher sein kann, wer nun für was verantwortlich ist und mit wem unter einer Decke steckt. Obwohl einige Klischees aufgetischt werden, sind sie so mit der Geschichte verwoben, dass sie selten störend wirken. Die beinharte Kämpferin zum Beispiel zeigt trotz iher körperlichen Überlegenheit eine seltsame Abhängigkeit von Lenny, der Bösewicht des Films ist vielleicht gar nicht so böse, wie man zunächst denken mag und auch das futuristische LA ist bemerkenswert realitätsverwurzelt. Zwei Dinge unterscheiden es von der Wirklichkeit: Die Clips und der Bürgerkriegszustand. Dieser ist ausgebrochen, nachdem der Rapper und Bürgerrechtler Jeriko One von Unbekannten hingerichtet wurde.
Lenny wird (so viel darf verraten werden) natürlich in diese Geschichte hineingezogen, obwohl ihm wenig daran liegt. Eine bestimmte Person allerdings zwingt ihn, seine Copqualitäten wieder aufzufrischen, indem sie ihm Discs zuspielt, die äußerst Boshaftes zum Inhalt haben. Lenny muss ansehen, wie eine Freundin vergewaltigt und ermordet wird. Dadurch wird nicht nur die Perversität des Killer gezeigt (der die Vergewaltigung äußerst perfide ablaufen lässt), sondern auch die des Zuschauers selbst, Lennys, der einfach nicht abschalten kann. Der dunkle Sog des Clips lässt ihn nicht nur zum Zeugen der Tat, sondern zum Mittäter werden - schließlich fühlt er die gefährliche Begeisterung des Killers an der eigenen Haut.
Die Barriere, die ihn vom Leben trennt, wird brutal niedergerissen und so muss er zeigen, was in ihm steckt. Da er, was dem Film wiederum zugute gehalten werden muss, nicht einfach zum Überhelden mutiert, sondern in seinen Schwächen gefangen bleibt, geht seine Ermittlungsarbeit alles andere als reibungslos vonstatten.

Die Spannung kommt somit nie zu kurz und obwohl "Strange Days" am Ende zu einem reinen Unterhaltungsfilm mutiert, der seine sozialkritischen Attitüden nahezu komplett abstreift, ist er auch dort nicht vorhersehbar. Was bleibt, ist ein Thriller, der nie im Einheitsbrei versinkt und teils sehr düstere, brutale Unterhaltung liefert, die ihn an einigen Stellen ob in die Länge gezogener Vergewaltigungsszenen zu einem Fall von guilty pleasure macht. Insgesamt aber ist die Botschaft des Films eindeutig; damit steht einem so doppelbödigen wie geradlinigen Vergnügen, das allerdings auch nicht vollständig massenkompatibel ist, nichts im Wege.

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