Ein Mann reitet durch eine verschneite nordamerikanische Landschaft, und dazu ertönt eine traumhafte Melodie aus der Feder des berühmtesten Westernkomponisten Ennio Morricone - vielleicht sogar seine schönste. Sie klingt sonderbar weich und verhalten, als liege auch auf ihr die schalldämpfende Wirkung des Schnees. Ein ungewöhnlicher Anfang für einen Western. Nicht in Staub und Sand, sondern in weißen Winterlandschaften spielt Sergio Corbuccis Film "Il grande Silenzio". Zu übersetzen als "Der große Silenzio", gemäß dem Namen einer der beiden Hauptfiguren, aber auch als "Die große Stille". Die Stille wird jedoch schon bald durchbrochen, als eben dieser Silenzio (Jean-Louis Trintignant) auf Kopfgeldjäger trifft - seine Feinde, nach denen er seit dem schrecklichsten Tag seiner Kindheit unablässig sucht. Ein paar von ihnen liegen bereits auf der Lauer, um Silenzio zu überfallen, doch er ist schneller als sie und erschießt alle bis auf den letzten, der sich ergibt. Aber auch er kommt nicht ungeschoren davon, denn ihm schießt Silenzio die Daumen ab - damit er keine Schusswaffe mehr betätigen kann. Das Motiv der zerstörten Hände, bereits in "Django" von Corbucci eingeführt, durchzieht in drastischen Bildern den gesamten Film als Sinnbild der Ohnmacht menschlichen Handelns.
Ungewöhnlich schroff und blutig inszeniert Corbucci die Kämpfe zwischen Silenzio, dem stummen Helden, dem ein Kopfgeldjäger einst die Stimmbänder durchschnitt, und seinen Gegnern, deren gerissenster und kaltblütigster Tigrero (Klaus Kinski) ist - in der deutschen Fassung Loco ("der Verrückte"). Er lockt unter Vorspiegelung von Gnade die gesuchten Täter aus ihren Verstecken, um sie zu erschießen und ihre Leichen im Schnee zu verbergen, damit sie sich für das Abholen des Lösegelds frisch halten. Mit dem neuangekommenen Sheriff Burnett (Frank Wolff) treibt er zynische Späße, während dieser als gesetzestreuer Biedermann versucht, ihm auf zivilisierte Weise das Handwerk zu legen und dabei ständig vorgeführt wird. Das Gesetz in seiner Machtlosigkeit, das ist ein großes und desillusioniert kommentiertes Thema in diesem Film. Nur mit überlegener Gewalt, wenn überhaupt, ist den mit allen Wassern gewaschenen Kopfgeldjägern beizukommen, die sich unverfroren selbst auf das Gesetz berufen - dessen Buchstaben sie scheinbar folgen, dessen Sinn sie aber mit Füßen treten. Aber dass auch dieser Weg nicht zum Ziel führt, macht der Film in seinem Verlauf mit schneidender Härte deutlich.
Silenzio erscheint als überaus widersprüchliche Figur: Er ist in ebensolchem Maße überlegen im Gebrauch seiner hochmodernen Schusswaffe, wie er mangels der Fähigkeit, zu sprechen, manchmal hilflos wie ein Kind agiert. Ein Saubermann ist er nicht. Er kämpft gegen die Kopfgeldjäger und wird daher von den Angehörigen der Opfer als Retter in der Not verstanden; jedoch handelt er aus höchst persönlichen Motiven; er betreibt eher einen Rachefeldzug, als dass es ihm an Gerechtigkeit um ihrer selbst willen gelegen wäre. Höchst fragwürdig ist seine Art, gegen seine Feinde vorzugehen. Er provoziert die reizbaren Männer bis aufs Blut, um sofort zu schießen, wenn diese schließlich ihre Waffe ziehen.
Tigrero alias Loco hingegen wird zynisch genug als in sich selbst ruhender, niemals die Beherrschung verlierender Mann präsentiert, der jede für ihn noch so unangenehme Situation mit einem spöttischen Kommentar quittiert und damit besonders den Sheriff, der damit sichtlich nicht umgehen kann, bis zur Weißglut treibt. Das Gesetz, das der Sheriff so treu zu befolgen sucht, führt Tigrero ständig im Munde und beruft sich stellenweise beinahe weinerlich auf seine Rechte, denen Burnett nicht nachkomme. Als er als Gefangener abgeführt wird, quengelt er sogar wie ein Kind, dass er austreten müsse, worauf der Sheriff zu seinem eigenen Schaden bereitwillig eingeht. Mit seiner flinken Zunge und seiner kontrollierten Verhaltensweise führt Tigrero den nicht nur stummen, sondern auch mit seinen ungewohnten Gefühlen für eine Frau kämpfenden Silenzio gekonnt vor, als dieser ihn in einem Saloon zur Strecke bringen will. Dieser latente Sadismus kommt am stärksten zum Ausdruck, als Tigrero gegen Beginn des Films einen Missetäter minutenlang verfolgt und mit einer Peitsche misshandelt, bevor er ihn tötet. Die Postkutschenfahrt, während derer Tigrero in Feierstimmung regelmäßig aussteigt, Leichen aufsammelt und den Kutschern dafür eine Runde Getränke verspricht, gibt im Gegensatz dazu, zusammen mit den ungläubigen Reaktionen des Sheriffs, eine hochgradig komische Szenenfolge ab. Unvergesslich die Reaktion des Gesetzeshüters, als am Kutschenfenster unversehens das Gesicht eines Toten auftaucht, der eben an der Außenseite hochgezogen wird.
Pauline (Vonetta McGee) ist die Witwe eines Opfers von Tigrero. Sie hat Silenzio mit der Rache an Tigrero beauftragt und sich schnell in ihn verliebt. Tigreros Geschäftspartner, der verschlagene Friedensrichter und Kapitalist Pollicut (Luigi Pistilli), der Silenzio noch aus einem anderen Grund hasst, hat jedoch schon länger ein Auge auf Pauline geworfen. Die Liebesbeziehung, die sich zwischen Silenzio und Pauline entspinnt, steht daher von Beginn an unter dem Zeichen der Hoffnungslosigkeit. Es bleibt zudem ganz offen, inwiefern es sich um eine echte Zuneigung handelt. Denn Pauline bietet sich selbst zunächst Silenzio als Preis für den Rachemord an Tigrero an.
Ohne weitere Handlungsdetails preiszugeben, möchte ich resümieren, dass Corbucci in diesem Film den Pessimismus des italienischen Westerns auf seine höchste und künstlerisch eindrücklichste Stufe erhebt. Weder das Gesetz, personifiziert in Sheriff Burnett, noch die in anderen Italowestern fast immer erfolgreiche Selbstjustiz vermögen diejenigen zu besiegen, die den Wortlaut des Gesetzestextes für eine verbrecherische Praxis pervertieren. Corbucci inszeniert dieses Vorgehen in seinen zynischen Höhepunkten aber nicht in larmoyanter Anklagehaltung, sondern gestaltet daraus unfehlbare Spitzen schwarzen Humors, was dem Film zusätzliche Klasse verleiht.
Die Schlusseinblendung, die in unerwartet moralisierendem Ton noch einmal wiedergibt, was man eben im Film gesehen hat, kann vor diesem Hintergrund nur als Schwäche gewertet werden. Auch lassen sich kleinere Unzulänglichkeiten der Dialoge festhalten: Erläuterungen der Hintergründe der Handlung werden einzelnen Figuren teils etwas ungelenk in den Mund gelegt. Doch das Gesamtbild dieses vielleicht wichtigsten italienischen Westerns wird dadurch kaum getrübt. In "Il grande Silenzio" vollendet Corbucci die italienische Entzauberung der amerikanischen Westernhelden, verleiht seinem Film aber neuen Zauber, indem er das trostlose Geschehen in wunderbar fotografierte Winterlandschaften einbettet, deren Bilder mit der Musik Ennio Morricones zu unvergesslichen Eindrücken verschmelzen.