Review

„Boston Illegal"

Filme für Erwachsene die sich nicht an eine vermeintlich elitäre Arthousefraktion richten, sind im Kino eher Mangelware. Das war nicht immer so. Vor allem in den 1970er Jahren gab es eine Vielzahl von Dramen und Thrillern, die es verstanden Anspruch mit Unterhaltung zu verbinden und sich in keiner Weise beim jugendlichen Publikum anbiederten.
Heute gibt es kaum mehr Filmstudios, die ihre Produktionen ausschließlich nach dieser Devise ausrichten. Die Rentabilität ist einfach nicht gegeben. Es ist bezeichnend und ein typisches Beispiel, dass die erst 2002 gegründete Independent-Firma Yari Film Group bereits Konkurs anmelden musste. Im Zuge dessen blieb auch Boston Streets (im Originaltitel What doesn´t kill you) eine Kinoauswertung verwehrt. Das ist um so bedauerlicher, da sich hier im besten Sinne altmodisches Autorenkino mit starkem Schauspiel, stimmungsvollen Bildkompositionen und einem gefühlvollen Thema-orientierten Score zu einer geschlossenen Einheit verbinden, wie man sie nur noch selten auf der großen Leinwand zu sehen bekommt.

Der ehemalige Kleinkriminelle Brian Goodman erzählt mit Boston Streets als Drehbuchautor und Regisseur in Personalunion seine ganz persönliche Geschichte. Aufgewachsen unter ärmlichsten Verhältnissen in Süd-Boston, geriet er bereits früh auf die schiefe Bahn und landete schließlich für mehrere Jahre hinter Gitter. Nach dieser einschneidenden Erfahrung beschloss er endgültig seiner Vergangenheit den Rücken zu kehren. Es gelang ihm im Filmbusiness Fuß zu fassen und mehrere Nebenrollen in Kino- und TV-Produktionen zu ergattern. What doesn´t kill you ist sein Debut als Autor.

Mark Ruffalo spielt Goodmans Alter Ego Brian Reilly, der seit Kindertagen für den Vorstadt-Paten Pat Kelly (Brian Goodman) als Geldeintreiber und Schläger seinen Lebensunterhalt verdient. Er fühlt sich schuldig, weil er seiner Frau (Amanda Peet) und seinen beiden Söhne kein besseres Leben bieten kann. Die ständigen Geldsorgen und Brians häufig durchgemachte Nächte sind nicht gerade förderlich für den ohnehin wenig stabilen Haussegen. Aber anstatt seiner Vergangenheit den Rücken zu kehren, ersäuft er seine Schuldgefühle in Alkohol und Drogen.
Diese Entwicklung bereitet auch Paulie McDougan (Ethan Hawke) zunehmend Kopfzerbrechen. Brians bester Freund und Komplize hat obendrein genug von den seiner Ansicht nach schlecht bezahlten Auftragsjobs ihres Mentors Pat Kelly und drängt Brian zu mehr Eigeninitiative. Als Kelly von den Nebeneinkünften „seiner Jungs" Wind bekommt, lässt er Paulie krankenhausreif schießen. Aber auch das kuriert ihn nicht von seiner Drogensucht und hält auch die Freunde nicht davon ab, weiterhin auf eigene Faust dazuzuverdienen. Schließlich landen die beiden im selben Knast, in dem auch ihr ehemaliger Boss Kelly einsitzt. Während die beiden anderen bereits kriminelle Pläne für die Zukunft schmieden, will Brian sein Leben von Grund auf umkrempeln ...

Boston Streets lebt vor allem von der ungemein intensiven Leistung Mark Ruffalos. In seinem müden, abgeschlagenen Gesicht spiegeln sich Selbsthass, Verzweiflung und eine tiefe Melancholie über den eigenen verkorksten Lebensweg. Er liebt seine Frau und seine Kinder, enttäuscht sie aber immer wieder und treibt damit die unausweichliche Entfremdung stetig weiter voran. Seine Körpersprache wirkt im Vergleich zu dem agilen und mental wesentlich stärkeren Paulie müde und kraftlos. Trotz seiner Schwächen und Fehltritte spürt man aber permanent den guten Kern und wünscht ihm einen Ausweg aus der größtenteils selbstverschuldeten Hölle.
Paulie bildet in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu Ruffalos Charakter. Zielstrebig, selbstbewusst und mit klaren Zukunftsvorstellungen, ist er der eindeutige Antriebsmotor der beiden. Für Drogen hat er nichts übrig, für ehrliche Arbeit allerdings ebenso wenig. Familiäre Bindungen geht er bewusst keine ein, um seine Unabhängigkeit nicht zu gefährden. Ethan Hawke hat mit dieser weniger vielschichtigen Rolle natürlich eine leichtere Aufgabe als Ruffalo. Gerade als Kontrast zu Brian funktioniert seine Figur aber ausgezeichnet.

Die Geschichte der beiden Freunde wird durch mehrere Episoden erzählt, ohne dass der Film episodenhaft wirken würde. Alles wirkt in sich geschlossen und stimmig. Die Geschichte entfaltet sich langsam, es gibt kaum Action und auch keine reißerischen Plottwists. Dass trotzdem nie Langeweile aufkommt, liegt neben den starken Darstellern vor allem an der hervorragenden Kameraarbeit. In ruhigen, stimmungsvollen Bildern werden Straßenzüge, Häuserfassaden und Panoramashots von Süd-Boston zum dritten Hauptdarsteller. Das hat schon in Scorseses Oscar-prämierten Gangsterepos The Departed bestens funktioniert.
Die Entscheidung fast ausnahmslos im Winter zu drehen war goldrichtig. Die verschneite Umgebung unterstreicht perfekt die melancholische Grundstimmung des Plots. Dazu kommt noch Alex Wurmans eindringlicher Score, der sein getragenes Grundthema immer wieder aufgreift und damit auch musikalisch den Film wie aus einem Guss wirken lässt.

Mehr Drama als Thriller und mehr Charakterstudie als Krimi, ist Boston Streets vor allem die Geschichte eines versagenden Vaters und dessen Verlangen, doch noch mal irgendwann das Richtige zu tun. Durch den autobiographischen Hintergrund des Plots und Mark Ruffalos nuancierte Darstellung atmet der Film regelrecht Authentizität, ohne dabei belehrend oder besserwisserisch zu sein. Ein in jeder Hinsicht erwachsenes und reifes Werk, das aus einer früheren Filmepoche zu stammen scheint und dabei trotzdem modern wirkt.

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