High Tension (2003) war Anfang des neuen Jahrtausends der inoffizielle Startschuss für eine ganze Reihe von französischen Terrorfilmen, welche unter anderem auch als "New French Extremity" Welle bekannt ist. Angelehnt an das amerikanische Exploitation- und Grindhouse-Kino unter Einwirkung der veränderten sozialpolitischen Verhältnisse in Frankreich wurde bei den unterschiedlichen, düsteren Genrebeiträgen mit schwerverdaulichen Grundthematiken als maßgebliches Stilmittel auf einen alles andere als zimperlichen Umgang mit tabuisierender Gewalt gesetzt. Neben Inside (2007) und Frontiers (2007) zählt Pascal Laugiers hier thematisierter Martyrs (2008) zu den einprägsamsten Grundpfeilern dieser Epoche und erhielt auch auf Grund seiner Schonungslosigkeit sowie seiner unerwartet verstörenden Entwicklung ein kontroverses Publikums- beziehungsweise Medienecho. "Intelligentes Meisterwerk" oder "verachtungswürdiger Folterporno" ? - Martyrs ist und bleibt hoch polarisierend, denn beide Wertungsextreme sind unter Berücksichtigung differenzierter Argumentationen durchaus legitim.
Drehbuchautor und Regisseur Pascal Laugier hatte es relativ schwer, Schauspieler und Geldgeber für seine Produktion zu finden. Zahlreiche Darstellerinnen und Studios lehnten das exotische Projekt kategorisch ab bis sich in Canal + ein Fernsehsender fand, der seinen Film unterstützte. Ein weiteres Problem war die einheimische Altersfreigabe 18+ für die ungeschnittene Version von Martyrs, was ein Kinoverbot in Frankreich bedeutet hätte, nur auf Initiative von Kultusministerin Christine Albanel konnte im Nachgang die 16+ Klassifizierung erworben werden um ein finanzielles Desaster zu verhindern. Die Geschichte selbst lässt den Zuschauer kaum zu Atem kommen: Frankreich Anfang der 70er Jahre: Die zehnjährige Lucie (Jessie Pham) kann nach jahrelanger Folter ihren Peinigern entkommen und wird in ein Kinderheim gebracht, in welchem sie sich einem Mädchen namens Anna (Erika Scott) anvertraut. 15 Jahre später spüren die mittlerweile erwachsenen Frauen die vermeintlichen Täter auf und Lucie (jetzt Myléne Jampanoi) sorgt mit einer Schrotflinte durch die Auslöschung der vierköpfigen Familie für blutige Gerechtigkeit. Als Lucie daraufhin Anna (Morjana Alaoui) zur Hilfe ruft und sich geplagt von albtraumhaften Halluzinationen das Leben nimmt, beginnt für ihre Freundin das gleiche Martyrium welches sie selbst einst durchmachte...
Wer einen knallharten, spannenden und nervenaufreibenden Revenge-Horror Thriller erleben möchte, ist in den ersten knapp 55 Minuten von Martyrs an der richtigen Adresse. Laugiers geschickter Handlungsaufbau, dem Zuschauer immer nur so viel Wissen zu geben, wie gerade notwendig und die ergreifende Darbietung der beiden Hauptdarstellerinnen sorgen gepaart mit der temporeichen Inszenierung, den intensiv blutigen Gewaltspitzen sowie den paranormalen Erweiterungen für fesselnde Genreunterhaltung mit Gänsehautgarantie. Bei Lucies schockierender, ergreifender, gnadenloser Vergangenheitsbewältigung gerät das Publikum in eine nicht zu verleugnende Diskrepanz zwischen Ablehnung, Zustimmung, Schockstarre und seelischem Beistand. Selten wurde eine Hinrichtung einer kompletten Familie samt minderjähriger Kinder so explizit dargestellt, doch durch ihre vorher erlebten Höllenqualen erfährt ihr skrupelloses Vorgehen eine gewisse Art von Legitimation, welche auf Grund Ihres von Wahnvorstellungen hervorgerufenen Suizid zusätzlich noch dramatisch untermauert wird. Laugier gelingt es gemeinsam mit seinen ausführenden Akteuren eine außerordentlich hohe emotionale Transparenz zu erzeugen, so dass für den Betrachter ein Eintauchen in seine Gedankenwelt ermöglicht wird und der Schmerz sowie die Angst der gepeinigten Seelen förmlich greifbar ist.
Seinen konträren Leumund verdankt Martyrs größtenteils dem Schlussdrittel inklusive Finale, in welchem durch das selektive Aufdecken der wahren Hintergründe die Geschehnisse in komplett andere Bahnen gelenkt werden und die ausgiebige, zermürbende, menschenverachtende Misshandlung der Anna unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Aspekte Ihren Lauf nimmt. Scheinbar innovativ - ingeniös tischt uns Laugier eine meiner Meinung nach bei genauerer Betrachtung nicht ganz zu Ende gedachte, teilweise wirre Theorie als fadenscheinige Rechtfertigung für die Folterorgien der sektenartigen Organisation auf. Ein großer Widerspruch steckt für mich schon alleine in der Begrifflichkeit des Martyrers, der eigentlich per Definition seinen eigenen Tod für die persönliche Überzeugung beziehungsweise für seinen Glauben in Kauf nimmt und sich nicht wie hier gezeigt selbst mit widerstandsloser Duldung aufgibt damit er vom Schmerz erlöst wird. Auch die reine Ergebnisorientierung ist logisch bewertet mangelhaft - was soll den ein Proband von einem Zustand zwischen den Welten berichten, wenn er meist gar nicht mehr in der Lage ist sich zu äußern? Die Ansätze sind zwar gut gemeint, konnten mich aber letzten Endes nicht überzeugen und auch die Anspannung der ersten Hälfte ist zumindest bei mir einer fast schon beängstigenden rationalen Ignoranz gewichen. Ich war am Schluss schon ein kleines bisschen froh, als der Film und die viel zu breitgetretene Marter des Opfers zu Ende war.
Schade, denn technisch und auch schauspielerisch ist Martyrs allererste Sahne und bewegt sich auf höchstem Niveau, obwohl das zu Verfügung stehende Budget mit knapp 2,8 Millionen Euro recht bescheiden war. Es müssen auch nicht immer absolute Topstars sein, welche die Eisen aus dem sprichwörtlichen Feuer holen, der gesamte Cast besteht mehr oder weniger aus international eher unbekannten, talentierten Darstellern die allesamt mindestens vorzeigbare Leistungen abliefern. Neben den beiden phänomenal aufspielenden Hauptprotagonisten Myléne Jampanoi und Morjana Alaoui, welche das Leid und den Schmerz ihrer Rollen exzellent verkörpern, verdient sich auch Catherine Bégin als zwielichtige Sektenchefin Mademoiselle ein gesondertes Extralob. Die kalte, empathielose Ausstrahlung passt wie die Faust aufs Auge zu den kranken Experimenten Ihrer Gefolgschaft.
Eine faire Bewertung zu treffen, ist wegen der beiden unterschiedlichen Teilbereiche gar nicht mal so einfach. Selten hat mich ein Film so in seinen Bann gezogen wie die erste Stunde von Martyrs, umso größer war aber dann auch die Ernüchterung, welche sich nach dem für mich etwas enttäuschenden Schlussabschnitt breit machte. Kumuliert betrachtet fühlte ich mich insgesamt jedoch gut unterhalten. Martyrs bietet gerade wegen seiner verstörenden Thematik harten Tobak, welcher bestimmt nicht auf den Geschmack der breiten Masse ausgerichtet ist. Das Schockierendste an Martyrs ist nicht einmal die grafische Gewalt, es ist die physische Folter, welche die armen Geschändeten erleiden müssen, was auch abgebrühte Zuschauer nicht gänzlich kalt lässt. MovieStar Wertung 7 von 10 Punkte.