Vorsicht, Spoiler!
Scottie Ferguson, ein ehemaliger Polizist, der aufgrund seiner akuten Höhenangst den Dienst quittieren mußte, arbeitet mittlerweile als Privatdetektiv und wird von seinem alten Freund Gavin Elster beauftragt, dessen Gattin Madeleine zu beschatten, die sich auffallend seltsam verhält und Selbstmord zu begehen droht. In diese Frau verliebt sich Scottie hoffnungslos, und sie erwidert seine Liebe. Bis jener schicksalshafte Tag kommt, an dem sie sich vor seinen Augen von einem Kirchturm stürzt - und er kann sie durch seine Akrophobie nicht daran hindern. Von Schuldgefühlen zerfressen, trifft er Monate später auf der Straße eine Frau, die Madeleine verblüffend ähnlich sieht...
Muß ich eigentlich noch irgendetwas zu “Vertigo” sagen? Nein, ich muß gewiß nicht, aber ich will es. Dieses 1958 gedrehte Drama ist ein zur Entstehungszeit verkanntes Meisterwerk von Alfred Hitchcock, das inzwischen als einer der bedeutendsten Filme aller Zeiten angesehen wird. Ich erinnere mich, daß ich mich nach dem ersten Ansehen als Noch-nicht-mal-Jugendlicher nicht so recht für “Vertigo” erwärmen konnte, doch dies ist eines der wenigen filmischen Beispiele, die immer besser werden, je öfter man sie sich zu Gemüte führt. Heute zähle ich den Film sogar zum Besten, was meine Augen bisher zu sehen bekamen.
Das fängt schon mit dem weltberühmten, von Saul Bass kreierten Vorspann an, in dem sich eine Spirale durch ein in extremer Nahaufnahme gezeigtes Auge windet. Dieser Sogwirkung kann sich ein echter Cineast nur schwerlich entziehen; er wird erst wieder nach gut und gerne zwei Stunden daraus entlassen. Untermalt mit einer unglaublich intensiven und nicht zu übertreffenden Musik (natürlich von Bernard Herrmann) ist dies so ziemlich der faszinierendste Auftakt, den man sich vorstellen kann.
Ihr merkt schon, ich spreche (bzw. schreibe) ständig in Superlativ, und das wird sich in den folgenden Zeilen kaum ändern, denn es geht umgehend weiter mit einer temporeichen Szene, an dessen Ende Hauptfigur Scottie (James Stewart) scheinbar aussichtslos an einer Dachrinne baumelt. Bereits hier setzt Kameramann Robert Burks den (natürlich) weltberühmten Verzerrungseffekt ein, der das Schwindelgefühl des Protagonisten auch auf den Zuschauer überträgt, indem die Kamera zurückgefahren und ein Zoom nach vorn getätigt wird. (Angeblich soll Hitchcock Jahre später persönlich beleidigt gewesen sein, weil Steven Spielberg in “Der weiße Hai” den gleichen Trick noch eine Spur ausgefeilter anwenden ließ.) Theoretisch könnte ich die Handlung noch weiterhin detailliert ausführen, weil nahezu jede Szene einen Höhepunkt beinhaltet oder über die Jahre Berühmtheit erlangte: Da wäre Scotties erste Begegnung mit Madeleine (Kim Novak), ihr erster Selbstmordversuch vor der Golden Gate Bridge, der Sprung von dem Kirchturm, kombiniert mit Scotties verzweifeltem Versuch, die Treppe hochzulaufen und sie aufzuhalten, die unheimliche (z.T. animierte) Traumsequenz usw.
“Nekrophilie” ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit “Vertigo” immer wieder gern fällt, denn nach Madeleines Tod lernt Scottie eine Frau namens Judy Barton kennen, die Madeleine so ähnlich sieht, daß er sie in Madeleine zurückverwandeln möchte, d.h. der Privatdetektiv ist von der Idee besessen, eine Tote zu lieben. Eine Obsession, die Hitchcock so reizte. Womöglich war diese sogar der Hauptgrund, warum er den Film drehte.
„Vertigo“ ist eine visuelle Sensation, die Farbsymbolik phänomenal. Nur zwei Beispiele: Man beachte die Bilder auf dem Friedhof, auf den Scottie Madeleine folgt. Um der ganzen Sequenz etwas Unwirkliches zu geben, wurde an dieser Stelle durch einen Nebelfilter gefilmt, so daß ein surrealer Eindruck vermittelt wird. Ein weiteres Zeichen für die Experimentierfreudigkeit ist der Moment, in dem Judy als Madeleine „wiederauferstanden“ ist und sich durch das Zimmer auf Scottie zubewegt. Hier wurde ein Grünfilter benutzt, der dann langsam nach oben weggezogen wurde. So wirkt es, als wäre Madeleine (in Gestalt von Judy) wirklich „Aus dem Reich der Toten“ (deutscher Nebentitel) zurückgekehrt.
Was Hitchcock damals angekreidet wurde, war, daß er die Romanfassung nicht unerheblich veränderte, indem er dem Zuschauer nämlich schon früh verrät, daß Madeleine und Judy ein und dieselbe Person sind. Während Scottie weiterhin im Dunkeln tappt, bekommen wir schon zu Anfang des letzten Drittels die wahren Ereignisse auf dem Kirchturm in Form einer Rückblende präsentiert. Dadurch geht dem Film selbstverständlich der Überraschungseffekt verloren, dafür baut Hitchcock einen enormen Suspense auf, was denn nun Scottie tun wird, falls er die Wahrheit erfährt. Letztendlich muß er sie sich eingestehen und fährt mit Judy zu der Unglücksstelle, wo er sie mit seiner Erkenntnis konfrontiert.
In den letzten 30 Sekunden des Films ereignet sich ein weiteres Unglück, und der Zuschauer wird mit einem verstörend offenen und unbefriedigenden Schlußbild abrupt aus der Handlung entlassen. Wer ein Happy-End erwartet (immerhin gehen rund 90% der Hitchcock-Filme glücklich aus), wird sich wundern und sollte lieber auf Brian de Palmas hervorragenden Thriller „Obsession“ (auch: „Schwarzer Engel“) mit ähnlicher Thematik zurückgreifen.
Die Schauspieler sind allesamt bis in die kleinste Nebenrolle erstklassig: James Stewart liefert eine brillante, Kim Novak möglicherweise sogar ihre - auf die ganze Karriere bezogen - beste Leistung ab, Barbara Bel Geddes als Scotties mütterliche Freundin Midge ist ebenfalls ausgesprochen passend und überzeugend besetzt.
Die Liste könnte ich noch beliebig fortsetzen, Schwachpunkte gibt es keine. Genauso könnte ich meine Lobpreisungen noch weiterführen, aber ich glaube, meine Meinung zu „Vertigo“ ist hinlänglich deutlich geworden.
Fazit: „Vertigo“ ist mittlerweile knapp 50 Jahre alt, hat aber nichts von seiner unglaublichen Faszination verloren. Eine mitreißende Optik, grandiose Darsteller, ein sich in Ohren und Kopf einbrennender Soundtrack. Auch heute noch ein Film voller Dramatik, eine einzige Ansammlung von denkwürdigen Szenen, bis heute folgten Dutzende von Kopien, Zitaten und Parodien. Ein Meisterwerk der Filmgeschichte und ein MUSS für jeden Filmliebhaber!
GESAMT: 10/10