Die italienischen Kannibalenfilme, die in den späten 70zigern und frühen 80zigern entstanden können durchaus als Vorboten gelten. Vorboten des Niedergangs des Kinogiganten Italien und seines einst so reichen Genre-Kinos. Den Grundstein legte Umberto Lenzi 1973 mit „Mondo Cannibale“ und er war es auch der im blutigen Fahrwasser von Ruggero Deodatos „Cannibal Holocaust- dem vielleicht einzigen Meisterwerk des Subgenres- mit den beiden miserablen Machwerken „Mangiati Vivi“ und „Cannibal Ferox“ einen Höhepunkt der sensationalistischen, biederen und primitiven Ausschlachtung des zivilisationsfeindlichen und deswegen beunruhigenden Kannibalen-Mythos erreichte. Die beiden zu dieser Zeit führenden Horrorfilmer Italiens- Dario Argento und Lucio Fulci- vermieden es glücklicherweise, in die gefährlichen Untiefen einer Kannibalenhöhle abzugleiten. Ihr Kollege Sergio Martino den ich an dieser Stelle als einen der bedeutendsten und talentiertesten Unterhaltungsfilmer seines Landes hervorheben möchte ließ sich hingegen analog zu Deodatos ebenfalls 1978 abgedrehten „Mondo Cannibale 2“ zu einem riskanten Abstecher in den Urwald der südwestpazifischen Inselwelt verleiten. Angesichts einer langen, an gleichermaßen bedeutenden wie geliebten Kultklassikern des Poliziottesco- und Giallo-Genres reichen Filmographie hegte ich also die Hoffnung das sich „La montagna del dio cannibale“ möglicherweise auf dem von Martino gewohnten hohen handwerklichen Niveau befinden und innerhalb seines Subgenres die zahlreichen unangenehmen Mitstreiter ausstechen könnte. Leider ist hier aber selbst ein Sergio Martino dem Scheitern gefährlich nahe bei dem Versuch, den damaligen Publikumserwartungen an ein „Cannibal Movie“ gerecht zu werden ohne dabei den eigenen Qualitätsstandard zu verraten. Doch aus diesem Kampf ist er dennoch knapp, aber unversehrt als Sieger hervorgegangen: „La montagna del dio cannibale“ zählt tatsächlich zu der verschwindend kleinen Anzahl von sehenswerten und aufwändigeren Kannibalenschockern die in diesen ungemein spekulativen und deswegen bemerkenswerten Jahren in der Schmiede der Dania-Film entstanden.
Das Drehbuch vollbringt- wie so oft in diesem Genre- keine Großtaten. Gemeinsam mit ihrem egoistischen Bruder sucht Ursula Andress in Papua-Neuguinea ihren verschwundenen Ehemann. Unterstützung erhält sie dabei von Stacy Keach (dessen Weg in diesen Film schwer nachvollziehbar scheint) und Walddoktor Claudio Cassinelli- bis man um einige Expeditionsteilnehmer dezimiert in die Hände eines mysteriösen, ausgehungerten Kannibalen-Bergvolkes gerät. Keine große Geschichte- Doch was sie dennoch zum Ereignis geraten lässt ist Martinos bemerkenswertes Gespür für formale Dramaturgie und Atmosphäre. Der dichte Regenwald erscheint hier tatsächlich als bedrohlicher, grüner Schlund, die Eingeborenen trotz einer oft mehr als fragwürdigen, dezent rassistischen Darstellung natürlicher und alles schlicht einen guten Deut edler, bedächtiger und aufwändiger als in den unbeherrscht blutrünstigen Filmen der Kollegen Lenzi, Deodato & Co. Der stattfindende „Culture Clash“ zwischen den voreingenommenen Europäern und den Eingeborenen wird von Martino leider nicht im Mindesten ausgearbeitet- was in Anbetracht seiner oft bissig die italienische Regierung attackierenden Polizeifilme und Western eine bedauerliche Enttäuschung ist. Auch hangelt er sich- und hier unterscheidet sich „La montagna del dio cannibale“ leider nur marginal von ähnlichen Schundprodukten- von Attraktion zu Attraktion. Besonders zu Beginn fällt dies negativ ins Gewicht- als wäre es Pflicht in einem Film dieser Art die Protagonistin schon wenige Minuten nach Ankunft in dem fremden, fernen, exotischen Land mit Vogelspinnen, Schlangen und ungezügelt rohen Tierschlachtungen zu konfrontieren. Überhaupt ist es das größte Ärgernis des an und für sich gelungenen Streifens dass selbst ein Regisseur mit Niveau und Moral wie Sergio Martino nicht auf zahlreiche in voller Länge präsentierte Tiersnuff-Sequenzen verzichtet hat- wenn auch keine davon so sehr abstößt wie die berüchtigte Ausweidung der Schildkröte in „Cannibal Holocaust“. Und immerhin muss man Martino zugunsten halten das er hier oft die brutale Nahrungskette der Natur (Boa vs. Affe…) in Aktion zeigt und sich die von Menschenhand ausgeführten Tiertötungen auf die ekelerregende Zerteilung eines Leguans zu Beginn des Films beschränken. Man darf durchaus den langen Arm der Produzenten hinter dem inflationären Einsatz derartiger Aufnahmen vermuten. Martino selbst hat „La montagna del dio cannibale“ selbst offensichtlich eher als düsteren Abenteuerfilm denn als brutalen Schocker ausgelegt und dieser marktschreierische Ton vereinbart sich nicht so recht mit der Arbeitsethik des zurückhaltenden Filmemachers.
Dennoch ist die Flut an Sequenzen unglaublich die- im Rahmen des damaligen italienischen Mainstreams- beinahe etwas transgressives an sich haben könnten, wären sie nur weniger plakativ inszeniert. Im haarsträubenden Finale in der Kannibalengrotte werden orgiastische Fragmente zu einem wilden Reigen exzessiver Bilder zusammengefügt in denen Schlangen verzehrt werden, Menschen und Tiere einander begatten, ausweiden und Ursula Andress schließlich mit dem Fleisch ihres getöteten Bruders gefüttert wird. Es fällt schwer, einem Regisseur wie Sergio Martino derartige Extreme zuzuschreiben, insbesondere in Kenntnis seines übrigen Werkes. Umberto Lenzi reicherte übrigens mit einigen dieser Szenen zwei Jahre später dreist seinen katastrophalen „Mangiati Vivi“ (dt. „Lebendig gefressen“) an. Die Zeigefreudigkeit Martinos hatte sich allerdings in seinen vorangegangenen Werken im Vergleich zu seinem frühen Giallo „Der Killer von Wien“ (1970) jedoch auch erheblich gesteigert.
Trotz zahlreicher Schockmomente (die in ähnlicher Form schließlich auch in späteren Genrevertretern vorzufinden sind) resultiert die erstaunlich dichte, überzeugende Atmosphäre in erster Linie aus der zurückhaltenden und schlichten Komposition der makellosen Bilder und der raffinierten Inszenierung der wildromantischen Kulisse. Gerade den sonst so zuverlässigen De Angelis-Brüdern Guido und Maurizio gelingt es jedoch nur in einigen raren Momenten, die Bemühungen der Regie zu unterstützen. Der grandiose Titelscore stellt gegenüber seltsam schmalzig-kitschigen Synthesizer-Melodien eine positive Ausnahme dar, sonst fällt der Soundtrack eher negativ auf- ein Novum im italienischen Genre-Film und auch im Schaffen dieser beiden versierten und unverzichtbaren Filmkomponisten die unter anderem auch Enzo G. Castellaris Meisterstück „Keoma“ oder Lamberto Bavas „A blade in the dark“ veredelten. Auch die schlockigen Knochenmasken der Kannibalen sowie Frau Andress’ belustigendes Schweizerenglisch tragen nicht gerade zur Ernsthaftigkeit bei. Aber derartige, trashige Extravaganzen hat man der Italoploitation-Filmkunst schließlich immer wieder gerne nachgesehen.
Ursula Andress, Stacy Keach und Antonio Marsina mit Naturbursche und Scout Claudio Cassinelli (hier mit dekorativer Löwenmähne und sexy Rauhbart) im Abenteuer-Erlebnispark auf Kannibalen- und Uraniumhatz. Wenn das nicht nach einem aufregenden Reißer klingt- und glücklicherweise trügt der Schein nicht: „La montagna del dio Cannibale“ sorgt als geradliniger, atmosphärischer und mit einigen offenherzig zelebrierten grafischen Schockeffekten versehener Abenteuerfilm beim geneigten Rezipienten für Laune und tront himmelhoch über den minderwertigen Schundprodukten mit denen die Dania-Film zwei Jahre später den Weltmarkt überschwemmen sollte. Zwar greift Martino seine mannigfaltigen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der durchaus vorgegebenen kritischen Optionen nicht weiter auf, als direkte, spannende Unterhaltung funktioniert sein Film aber dennoch ausgezeichnet- Die feucht-schwüle Regenwaldluft, die etwa in den stumpfsinnigen Kannibalenfilmen Umberto Lenzis nie zu schnuppern war weht hier in kräftigen Brisen von der Leinwand und garantiert ein handwerklich erstklassiges Exploitation-Erlebnis der besonderen Art. Nur Deodatos eindrückliches Skandalon „Cannibal Holocaust“ sollte mit seinen medien- und zivilisationskritischen Spitzen auch Martino in seine Schranken verweisen, ihn gleichzeitig aber auch in seinen extremen Abscheulichkeiten übertreffen.