Deutschland 1946: Waisen aus den KZs werden registriert, und es wird versucht, ihnen wieder ein Leben unter Menschen nahezubringen. Der kleine Karol traut dem Braten nicht und flüchtet, dabei läuft er dem GI Steve in die Arme. Dieser nimmt Karol unter seine Fittiche, bringt ihm nach und nach Englisch bei, und würde ihn am Liebsten mit zurücknehmen in die USA. Parallel dazu sucht Karols Mutter Hannah in ganz Deutschland nach ihrem Sohn. In der Stadt erfährt sie, dass der Zehnjährige bei der Flucht vor der vermeintlichen Vergasung wahrscheinlich ertrunken ist. Am Leben verzweifelt kümmert sie sich um nach Palästina auszuschiffende jüdische Kinder, ohne zu ahnen, dass der Junge ganz in ihrer Nähe lebt und wohlauf ist.
Bei Robert Ludlum habe ich mal den Ausdruck von den “verlorenen Kindern Europas“ gelesen, der mich immer ganz extrem beeindruckt hat. Ludlum meinte damit die Kinder, die ihre Eltern in den KZs verloren haben, und selber nur mit knapper Not davonkamen. Die keine Kindheit hatten, sondern stattdessen jeden Tag ihres Lebens vom Tode bedroht waren und mit Gewalt, Hunger, Verelendung und Einsamkeit umgehen mussten. Entsetzliche Schicksale, die wir Wohlstandsgören uns überhaupt nicht mehr vorstellen können. Mit DIE GEZEICHNETEN hat Fred Zinnemann diesen entwurzelten Menschen ein grandioses Denkmal gesetzt. Beim Anschauen habe ich mich ein paar Mal gefragt, woher Zinnemann wohl diese Menge an heruntergekommenen und verzweifelt wirkenden Kindern bekommen hat, Kinder die eben “gezeichnet“ waren für den Rest ihres Lebens. Aber damals war Europa wahrscheinlich voll damit, und genau diesen Kindern wird mit DIE GEZEICHNETEN gedacht. Auch wenn die Suche wahrscheinlich selten so erfolgreich war wie im Film. (Zinnemann selber musste nach dem Krieg erfahren, dass beide Eltern im Holocaust ermordet wurden.)
Insofern kann man dem Film sicher so einiges vorwerfen, zum Beispiel das heute oft etwas aufgesetzt wirkende Pathos, was aber im Jahre der Dreharbeiten 1947 durchaus gängige Filmsprache war. Und auch das Ende ist sehr schnell abzusehen, aber in dieser Zeit nicht ungewöhnlich gewesen. Der einzige Punkt, den man vielleicht wirklich kritisieren könnte, ist das komplette Ausblenden deutscher Befindlichkeiten und Umstände: Die Mitläufer, die Alt-Nazis (gab es 1946 überhaupt welche?? [/Ironie]), der Werwolf, das Leben in den Ruinen (wird nur einmal kurz und leicht romantisiert angerissen), der Schwarzmarkt, das Elend und den Hunger …
Aber das ist alles nicht Thema des Films, und wer das sehen möchte sollte auf Rossellinis DEUTSCHLAND IM JAHR NULL ausweichen, oder auf … UND ÜBER UNS DER HIMMEL von Josef von Báky. Nein, hier lautet das Thema “Kindheit in und nach dem Kriege“ und das ist nach den Kriegen auf dem Balkan und während des laufenden Stellvertreterkriegs in Syrien auch heute noch so aktuell wie eh und je. Es sind immer die Kinder die am meisten zu leiden haben, und Montgomery Clifts gibt es auf dieser Welt viel zu wenige. Es geht darum, dass nach den grauenhaften Kriegsjahren, in denen nichts als Vernichtung in Europa herrschte, (junge) Menschen, die nichts anderes kannten als den Tod, plötzlich wieder lernen mussten Vertrauen zu haben, und etwas für sie völlig Fremdes wie Freundschaft und Fürsorge anzunehmen. Sehr intensiv sind etwa die Filmszenen, wenn die Kinder mit Rotkreuz-Transportern fortgebracht werden sollen in ein anderes Lager, und alle der Meinung sind dass sie jetzt vergast werden. Oder die Frage Karols nach der Bedeutung des Begriffs “Mutter“ …
Außerhalb des Studios wurde in den Ruinen von Nürnberg und Würzburg gedreht, was den Bildern eine erschreckende Wucht gibt (vor allem wenn man, wie ich, 20 Jahre in Nürnberg gelebt hat und vieles erkennt) und der Geschichte viel Authentizität verleiht. Somit ist der Film eine Lehr- und Geschichtsstunde wie sie in der Schule leider nicht vermittelt wird, und heute, über 70 Jahre nach dem Krieg, größtenteils vergessen oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt wird. Auch was Heimatlosigkeit und Entwurzelung bedeuten kann man hier aus erster Hand miterleben. Und verdammt nochmal, gerade Anfang und Schluss von DIE GEZEICHNETEN drücken gehörig auf die Tränendrüse. Was aber nicht schadet, denn so kann der Film seine Botschaft nur umso besser verbreiten und in Erinnerung bleiben. DIE GEZEICHNETEN mag vielleicht kein Meisterwerk sein, aber er hat etwas zu sagen, und das tut er sehr sehr nachdrücklich und voller Engagement. Was ihn ausgesprochen sehenswert macht, auch und gerade im neuen Jahrtausend.