Als Rezensent neigt man ja dazu, bei hervorragenden (oder eben besonders schlechten) Filmen zu Superlativen zu greifen, die im Eifer des Gefechts geäußert werden, um im Rückblick festzustellen, daß man mit seiner Einschätzung vielleicht doch etwas zu voreilig gewesen ist, so daß man schnell wieder relativieren muß. Wenn ein Film allerdings auch nach Monaten im Kopf immer noch so präsent ist, als hätte man ihn erst vor einer Woche gesehen, kann man sich sicher sein, daß er etwas Besonderes ist. Ein solcher Film ist „Die Regenschirme von Cherbourg“.
Vorab: Ich bin kein Musical-Fan und daher in dem Genre auch nicht sonderlich bewandert, aber Jacques Demy hat vor 50 Jahren offenkundig die richtigen Knöpfe gedrückt, um mich für seine Geschichte, die er sich ausgedacht hat, völlig einzunehmen. Dabei ist sie auf dem Papier nicht einmal besonders eindrucksvoll, sondern eher schlicht und altbekannt: Ein junges Pärchen ist sich sicher, im jeweils anderen die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Doch leider kommt es meistens anders, als man denkt, denn Guy (Nino Castelnuovo) wird für mindestens zwei Jahre zum Algerienkrieg einberufen und die schwangere Geneviève (Catherine Deneuve) bleibt allein zurück. Sie verspricht ihm, auf ihn zu warten, aber da wäre noch ihre Mutter (Anne Vernon), die Besitzerin eines Regenschirmladens, die mit der Beziehung ihrer Tochter zu dem Automechaniker nicht glücklich ist und aus finanziellen Gründen eine bessere Partie für Geneviève anstrebt. Als Guy leicht verwundet aus dem Krieg zurückkehrt, hat sich einiges geändert…
Das ist nicht unbedingt der Stoff, aus dem der Drehbuch-Oscar gemacht ist, aber für Love-Story-Liebhaber funktioniert er wie eh und je. Man sollte den Film allerdings ohnehin nicht auf die traurige Liebesgeschichte reduzieren. Es werden noch andere Themen angerissen, und der größte Verdienst des Drehbuchs ist es, selbst einer negativer gezeichneten Figur wie Genevièves egoistisch erscheinender Mutter verständliche Motive an die Hand zu geben, warum sie ihre Tochter in die Arme des reichen Juweliers Roland (Marc Michel) treibt, so daß diese mehr ist als die eindimensionale „Böse“. So ist es auch erfreulich, daß es sich bei Roland nicht um einen klischeebehafteten arroganten Adligen handelt, wie man sie sonst so oft zu sehen bekommt. Vielmehr möchte er Geneviève heiraten, weil er sie wirklich liebt und glücklich machen möchte, ist in seinen Absichten also nicht weniger ehrlich als Guy und ein herzensguter Mensch. Gleiches gilt für die in Guy verliebte Madeleine (Ellen Farner), die sich aus Rücksichtnahme auf die bestehende Beziehung zwischen ihm und Geneviève zurückhält, aber dann Nägel mit Köpfen macht, als sich die Gelegenheit ergibt.
Demy geht bei all dem ein gewisses Risiko ein, denn er hat sich nicht nur für ein Musical entschieden, sondern auch dafür, kein einziges Wort im Drehbuch normal aussprechen zu lassen, weshalb der Film selbst im weiten Feld des Musicals eine Sonderstellung einnimmt. Selbst einfache Sätze werden gesungen vorgetragen, was sicherlich selbst für den französischen Muttersprachler eine ziemliche Herausforderung für die Gehörgänge darstellt, noch zusätzlich erschwert, daß sich die Figuren hier nicht die Emotionen in Liebesliedern laut um die Ohren schmettern, sondern diese in einem recht nüchternen Sprechsang äußern. Aber auch das funktioniert, weil „Die Regenschirme von Cherbourg“ einfach wie ein Uhrwerk läuft, wo ein Rädchen ins andere greift, weil einfach alle Faktoren stimmen.
Man kann sich denken, wie schwer die Aufgabe für die Darsteller gewesen sein muß, gleichzeitig so zu tun, als würden sie ihre Texte selbst singen (die Rolle übernahmen professionelle Sänger), und ihre Gefühle ausdrücken zu müssen. Allerdings wird sie von allen Beteiligten bravourös gemeistert, allen voran von Catherine Deneuve. Für die damals 21-jährige bedeutete dieser Film der Durchbruch, und es verwundert nicht – schwer vorstellbar, daß es auch nur einen männlichen Zuschauer geben kann, der sich nicht im Laufe der Geschichte in dieses zarte Wesen verliebt, das mit einem einfachen Blick mehr Zauber auslöst, als es ein Zauberstab je geben könnte. Die Gefühle der Liebenden wirken jederzeit wahrhaftig und können besonders nah am Wasser Gebaute ein ganzes Taschentuchpaket aufbrauchen lassen.
Bei der Optik setzt Demy auf grelle Bonbonbuntheit. Zu keinem Zeitpunkt verhehlt der Film seine Künstlichkeit, setzt ganz auf Primärfarben, die auf der Kinoleinwand sicherlich noch um einiges imposanter sind. Die Liebe, die hier im Kulissen-Detail steckt, bemerkt man in jedem Set, in jeder Einstellung. Bereits der Vorspann ist in der Hinsicht ein Kunstwerk an sich: Die Kamera macht einen Schwenk von dem Panoramablick auf einen Hafen in vergilbten und dunklen Farbtönen nach unten und zeigt aus der Vogelperspektive den steinernen Fußweg. Just beginnt es zu regnen (wobei auch nicht großartig verschleiert wird, daß man hier vermutlich Gießkannen o.ä. verwendet, um einen Schauer zu simulieren) und Fußgänger und Radfahrer laufen kreuz und quer, diagonal von oben nach unten und umgekehrt durchs Bild. Einige spannen ihre bunten Regenschirme auf, die farblich an so einem verregneten Tag natürlich besonders ins Auge stechen, andere beeilen sich, in ihren Regencapes davonzukommen. Darüber laufen in hellblauen Lettern die Titel (der Filmtitel selbst erscheint in Pink). Ein wunderschön gestalteter Start in den Film, der sofort Lust auf mehr macht.
Andere Effekte wiederum betonen neben den bunten Farben noch zusätzlich die Künstlichkeit, so etwa bei dem Spaziergang des Liebespaares, als Guy Geneviève gerade eröffnet hat, daß er in den Krieg ziehen muß. Sie gehen nebeneinander her, er hält sie im linken Arm, während er mit der rechten Hand sein Fahrrad schiebt. Dennoch sieht es zu keinem Zeitpunkt so aus, als würden sie gehen, sondern über den Asphalt schweben.
Der Schlüssel für die hochintensive Wirkung dieser todtraurigen Liebesgeschichte liegt letztlich jedoch in dem leider lediglich oscarnominierten Score von Michel Legrand, der permanent zu Tränen rührt. Allein das gefühlvolle Leitthema ist ein ganz großes Stück, ein wirklich denkwürdiges, sofort ins Ohr gehendes Gänsehauterlebnis, für das man ehrfürchtig vor dem Komponisten niederknien möchte. Erstmals sehr ruhig mit wenigen Instrumenten für den Vorspann eingesetzt taucht es mit Voranschreiten der Handlung immer wieder vereinzelt auf, immer lauter. In der Schlußszene erscheint es dann in voller orchestraler Pracht, tatkräftig unterstützt durch einen Frauenchor – und wen es da immer noch nicht berührt hat, der sollte überlegen, ob er innerlich tot ist. (Später sollten u.a. Louis Armstrong und Connie Francis das Leitthema unter dem Titel „I Will Wait for You“ singen.)
Überhaupt sollten die letzten fünf Minuten, in denen sich Geneviève und Guy nach Jahren an einem verschneiten Weihnachtstag zufällig an einer Tankstelle doch noch wiedersehen (nachdem wir ihren Werdegängen nach Ende des Kriegs getrennt voneinander im vorherigen Kapitel beiwohnen durften), längst einen festen Ehrenplatz als eine der wunderschönsten und zugleich ergreifendsten Szenen der Filmgeschichte besitzen, die darüber hinaus so viel Gesprächsmaterial liefert, weil man zwar ein paar Worte miteinander wechselt, die Gefühle aber unausgesprochen bleiben. Es sind hauptsächlich die Blicke, die sie austauschen und über die man stundenlang diskutieren könnte, weil sie von Traurigkeit zu Enttäuschung bis hin zu Resignation quasi alles bedeuten können. So oder so: Das Ende zerreißt einem das Herz. Mit dieser emotionalen Wucht, die es transportiert, kann für mich maximal noch das Finale von „Frühstück bei Tiffany“ mithalten.
Wer sich also „Die Regenschirme von Cherbourg“ allein aus dem Grund, weil es sich um ein Musical handelt, durch die Lappen gehen läßt, verpaßt eine der größten Liebesgeschichten, die das Kino je zu bieten hatte. 9/10.