„...dass wir vielleicht eine Nation sind, in der gewisse politische Probleme durch Mord gelöst werden!“
Der französische Filmemacher Henri Verneuil („Angst über der Stadt“) zeigte sich Ende der 1970er fasziniert von den Ermittlungen zum tödlichen Attentat auf den US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, die, nachdem der Fall zunächst klar schien, zahlreiche Ungereimtheiten offenbarten. Er verband den Fall mit den Ergebnissen des Milgram-Experiments, konnte den Polit-Thriller-erfahrenen Yves Montand („Z – Anatomie eines politischen Mordes“) als Hauptdarsteller gewinnen und veröffentlichte den in einem fiktiven Staat spielenden Film „I wie Ikarus“ schließlich im Jahre 1979.
Der just wiedergewählte Präsident des namentlich nicht näher genannten Staats kommt bei einem Attentat durch tödliche Schüsse ums Leben, der vermeintliche Täter begeht angeblich Selbstmord. Für die sich mit dem Fall auseinandersetzende Untersuchungskommission ist der Fall klar, doch Kommissionsmitglied und Generalstaatsanwalt Henry Volney (Yves Montand) hegt Zweifel und verweigert sich der Unterzeichnung des Abschlussberichts. Er rollt den Fall neu auf; zahlreiche Widersprüche führen weg vom Einzeltäter und hin zu einem Komplott, das bereits fast alle Zeugen ihr Leben gekostet hat...
„Diese Geschichte ist vollkommen wahr, weil ich sie von Anfang bis Ende erfunden habe.“ – Mit diesem Boris-Vian-Zitat beginnt Verneuil seinen Film in einem mit einer Fantasie-Flagge versehenen, jedoch recht französisch anmutenden Staat, zeigt einen Heckenschützen, der jedoch gar nicht der wahre Todesschütze war und kurz darauf selbst ermordet wird. Es folgt ein Zeitsprung: Ein Jahr später unterzeichnet Volney öffentlichkeitswirksam den Untersuchungsabschlussbericht nicht, womit der Zuschauer die Hauptrolle erstmals kennenlernt und die eigentliche Handlung beginnt. Volney wird als couragierter Mann gezeigt, der seine Aufgabe ernst nimmt und unbequeme Fragen stellt, mit der gebotenen Seriosität gespielt von einem seine Rolle wie üblich vollends ausfüllenden Yves Montand, der einmal mehr (man erinnere sich an sein Engagement für Costa-Gavras) auch ein privates Interesse an der Umsetzung dieses Films hegte. Wie weit die Verschwörer gehen, zeigt „I wie Ikarus“ eindrucksvoll, wenn nacheinander alle unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen Zeugen vorgestellt werden. Da wurde einer, der selbst ermitteln wollte, angeblich von palästinensischen Terroristen ermordet, eine Dame (Brigitte Lahaie!) hat sich angeblich erhängt, ein weiterer Zeuge starb an Herzversagen, gleich drei bei Verkehrsunfällen, andere durch Kugeln, z.B. aus Polizeiwaffen. Bis auf einen Unbekannten sind alle tot. Verneuil beschränkte sich auf nur neun Zeugen – aus Zeitgründen, denn nach dem JFK-Mord waren es derer satte 18! Als Todesschütze wird schließlich ein Auftragskiller (mit Lego-Frisur) präsentiert, engagiert von einem Mafioso namens de Palma (Jean Négroni), dessen Gefängnisentlassung der Geheimdienst erwirkt hat.
Und damit ist „ I wie Ikarus“ bei einer seiner zwei schwergewichtigen Aussagen angelangt: Der Kritik an der Rolle der Geheimdienste im politischen Weltgeschehen. Jeder Staat hat einen oder mehrere Geheimdienste, die eigentlich der jeweiligen Regierung unterstellt sein sollten. Jedoch sind diese nicht selten mit derart vielen Privilegien und Befugnissen ausgestattet, dass sie sich sogar der staatlichen Kontrolle entziehen, ihre eigenen Interessen oder die Dritter verfolgen und die Politik damit entscheidend mitbestimmen. Man muss es so drastisch formulieren: Neben der katholischen Kirche gehören gewisse Geheimdienste zu den einflussreichsten Verbrecherorganisationen, Massen- und Völkermord gehört zu ihrem blutigen Geschäft. Sie haben u.a. die Macht – wie der Film eindrucksvoll zeigt –, gewählte Politiker durch die Medien unpopulär zu machen, die Stimmung innerhalb der Bevölkerung maßgeblich zu beeinflussen. Volney vergleicht Geheimdienste folgerichtig mit der Mafia, bezweifelt indes nicht ihre Notwendigkeit, kritisiert aber ihre Verselbständig zu über dem Gesetz stehenden „Staaten im Staate“. Sie sind verantwortlich für Kriege (vgl. z.B. gezielte Fehlinformationen des US-Außenministers, um den Irak-Krieg zu legitimieren) und damit einhergehendes Leid und müssen sich selten jemandem gegenüber dafür verantworten. In „I wie Ikarus“ waren sie es, die den gewählten Präsidenten zum Abschuss freigaben. Im Folgenden setzt sich „I wie Ikarus“ damit auseinander, wie es so weit kommen kann und beschäftigt sich in einer langen Exkursion mit dem berühmten Milgram-Experiment, anhand dessen er erörtert, wie Gehorsam auch für unmenschliche Entscheidungen in Diktaturen, im Faschismus, aber auch in (nominellen) Demokratien erreicht wird und funktioniert, wie Menschen für fremde Zwecke manipuliert und zu gewissenlosen Befehlsempfängern und -ausführern werden. Damit geht „I wie Ikarus“ einen entscheidenden Schritt weiter als andere Polit- und Verschwörungs-Thriller und versucht, Antworten in jedem einzelnen von uns zu finden, lädt ein zur kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst, statt nur mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Der sogar Nachhilfe im Tresorknacken gebenden Handlung hilft einmal gar Kommissar Zufall auf die Sprünge, und manch sarkastischer Kommentar Volneys heitert kurzzeitig auf, ohne den nüchternen, sachlichen Stil zu torpedieren. Wozu auch, denn auch ohne Effekthascherei und prätentiöses Brimborium liefert „I wie Ikarus“ neben einem Lehrstück in schmutziger, blutiger Politik überaus spannende Unterhaltung. Das pessimistische Ende ist nicht nur konsequent, sondern auch brillant umgesetzt worden und hinterlässt einen aufgewühlten, wütenden Zuschauer, der sensibilisiert wurde für diese Thematik und im Idealfall seine politische Naivität ablegt, eine kritische Haltung einnimmt. Maestro Ennio Morricones Soundtrack veredelt diesen Spitzenfilm, Film und Musik werden sich gegenseitig gerecht in einem Film voller Ungerechtigkeit. Leider hat sich seit dem Mord an John F. Kennedy nicht viel geändert, noch immer treiben CIA, NSA und wie sie alle heißen ihr Unwesen. Nicht nur deshalb gehört „I wie Ikarus“ eigentlich als Pflichtstoff nicht nur in die private Filmsammlung, sondern vor allem auch in den Schulunterricht.