Als eines der letzten Länder Europas wurde auch Deutschland von der Modernisierung im filmischen Bereich ergriffen. Mit dem „Neuen deutschen Film" oder „Jungen Deuschen Film" wurde ab Mitte der 60er Jahre ein Konzept umgesetzt, welches 1962 von einigen jungen Regisseuren - unter ihnen: Alexander Kluge und Peter Schamoni - verfasst wurde: Das Oberhausener Manifest. Unter dem Leitspruch „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen." sollten nun auch in der Bundesrepublik Deutschland wieder realistischere Stoffe verfilmt werden, die Alltagsgeschichten, Geschichte von sozialen Problemen, Missständen oder aktuelle Politik zum Gegenstand haben.
Ab Beginn der 70er Jahre allerdings war diese erste Bewegung vorbei und das Nachwachsen einer zweiten Generation, die damals in Oberhausen nicht zugegen war, vollzog sich. Neben Werner Herzog gehörte auch Wim Wenders dieser Gruppe von Filmemachern an, welche den Jungen Deutschen Film Anfang der 80er Jahre auch wieder zu Grabe tragen sollten. Der Autorenfilm wurde zugunsten wirtschaftlich erfolgreicher, aber unkritischer Unterhaltungsfilme „geopfert". Paris, Texas nun, der auf den Filmfestspielen von Cannes 1984 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, kann man als letztes Röcheln einer untergehenden Filmepoche verstehen.
Der Film erzählt die Geschichte von Travis (Harry Dean Stanton), welcher ziellos durch die Mojavewüste irrt und schließlich von einem Arzt (Die Brücke-Regisseur Bernhard Wicki) aufgegriffen wird. Der verständigt seinen Bruder Walt (Dean Stockwell) im fernen Los Angeles, damit dieser ihn abholen kann. Doch als Walt dort eintrifft, scheint Travis paralysiert, er spricht kein einziges Wort. Vier Jahre sind seit ihrer letzten Begegnung vergangen und Walt hat Travis´ Sohn Hunter (Hunter Carson) bei sich aufgenommen, da dann auch Travis´ Frau Jane (Natassja Kinsi) von einen auf den anderen Tag verschwunden war. Wieder klarer denkend und auch sprechend, macht sich Travis mit Hunter auf, Jane zu suchen...
Wim Wenders gelang es - von kleineren Passagen abgesehen - über eine Laufzeit von 139 Minuten hinweg ein faszinierendes Filmkunstwerk zu schaffen. Schon die ersten Szenen, als Travis durch die Wüste irrt, begleitet von Ry Cooders minimalistischen, aber äußerst atmosphärischen Gitarrenklängen, sind so voll Schönheit und gleichzeitig Einfachheit, dass es dem Zuschauer den Atem stockt. Dass sich dabei über die Laufzeit des Films hinweg die ein oder andere Länge bei den epischen Bildern, welche kühl, aber seltsam faszinierend den temporeichen amerikanischen Alltag zwischen Highway, Fast Food, Eisenbahn und Flugzeug illustrieren, nicht vermeiden lässt, fällt dabei kaum ins Gewicht.
Die Thematik des Tempos und der Zeit scheint dabei elementarer Bestandteil des Films zu sein: Travis war lange Zeit fort, scheint überfordert von der Reintegration, dem schnellen Leben zwischen der Technisierung der Großstadt, welche der gemächlichen Lebensweise in der Provinz, in Paris, Texas, wo er eine kleine Farm erwarb, entgegen steht. Wenders` Geschichte ist die Geschichte von Langsamkeit, vom Alltag, von der Psyche der Hauptfigur, die sich nur langsam wieder an die Zivilisation gewöhnen und soziale Beziehungen und familiäre Bindungen wieder vertiefen kann. Es bleibt bis zum Ende weitgehend im Dunkeln, wo Travis die ganzen vier fehlenden Jahre zugebracht hat, aber gemessen an dem psychologisch sehr intensiven und langen Gespräch mit seiner Frau am Ende, räumlich separiert durch eine Glasscheibe in einem anrüchigen Etablissement, erhält man einen vagen Eindruck davon, was passiert ist und wie es passieren konnte.
Der Zuschauer muss Geduld mitbringen, sich auf diesen zuweilen sperrigen und anstrengenden Bilderbogen ebenso einzulassen wie auf diesen ambivalenten Genremix aus Road Movie, Psychodrama und unkonventioneller Liebesgeschichte. Doch diese Genres stehen sich in Paris, Texas nicht kontrapunktisch entgegen, sondern teilen das Geschehen sinnvoll auf.
Die Motive der Trennung und der Separation, sei es nun eine metaphorische, welche einzig im Kopf stattfindet, oder eine manifeste geografisch-topologische, welche sich mittels des Kontrasts von weiten, wunderschönen, aber tristen Landschaften und nächtlichen oder täglichen Großstadt-Panoramen versus der Intimität eines Wohnhauses vollzieht, spielen auch eine wichtige Rolle. Diese Trennung erhält bildmotivischen Charakter, achtet man auf die Fotografie von Autofahrten. Häufig ist nur eine der beiden Charaktere, die sich im Auto befinden, im Bildausschnitt zu sehen. Links bzw. rechts neben ihnen befindet sich ein Stück vom „Außen", der räumlichen Umgebung, im Bildkader. So räumlich nah sind sich doch die Protagonisten, während sie sich seelisch längst entfremdet haben.
Beeindruckend auch - ich betone es erneut - die Fotografie von Robby Müller, welcher mit starken Kontrasten arbeitete und zu den von Sam Shepard geschriebenen Drehbuch mit seiner ausgeprägten Motivik die passenden Bilder fand.
Man muss Wim Wenders´ Filme einfach lieben, auch wenn sie sich zuweilen der simplen Rezeption verschließen und durch ihr ganz eigenes, im Gesamtdurchschnitt geringes Tempo, welches an Jim Jarmuschs Stil erinnert, Geschichten zu erzählen, eine Langsamkeit an den Tag lesen, die auf narrativer Ebene aber umso intensiver wirkt. Wenders ist ein Künstler, dessen beeindruckendes Werk uns zeigt, dass deutsches Kino auch in den 80er Jahren noch internationale Relevanz besitzen kann. Und - das ist der Verdienst von Paris, Texas - dass Themen wie Familie, Liebe, Entfremdung, Streit und Versöhnung zeitlich kontinuierlich omnipräsent sind.