Review

Psychische Störungen wie Selbstzerstörung, Obszönitäten, brutale Gewalt, sexuelle Erniedrigung und versuchte Beherrschung der Lust, das alles musikalisch untermalt mit Schubert ("Die Winterreise") - der Film "Die Klavierspielerin" lädt zum Nachdenken ein. Michael Haneke (Regie) lässt dabei den Zuschauer alleine, unfähig das Gesehene zu kommentieren, zu interpretieren. Der Zuschauer kann sehen, akzeptieren, begreifen - aber auch verstehen?

Schwerwiegende psychische Probleme. So lässt sich am ehesten Erika Kohuts Leben beschreiben. Die Professorin am Wiener Konservatorium vereint alle gängigen psychischen Probleme der Gegenwart in einer Person. Angefangen von harmlosen Dingen wie die Unfähigkeit, Freude zu empfinden, selbst bei ihrem eigenen (ihrer Meinung nach dem einzig perfekten) Klavierspiel noch bei dem nahezu perfekten Spiel ihrer Schüler und damit ihrem eigenen Erfolg. Im Gegenteil: Sie versucht dies zu verhindern, damit "niemand sie überholen kann", wie es die Mutter ihr eintrichtert, gewaltsam findet dies dann auch seinen Ausdruck in der bewussten Zerstörung der rechten Hand einer begabten Schülerin. Aber selbst hier lässt der Film Raum zur Interpretation: Hat die Protagonistin Kohut wirklich die Verstümmelung aus eigenen Motiven herbeigeführt oder um das Mädchen aus den Klauen ihrer Mutter zu befreien, die mit allen Mitteln versucht eigene Misserfolge mit den erzwungenen Erfolgen der Tochter zu kompensieren? Hat Kohut damit nicht letztlich das Kind zur "verlorenen Kindheit" zurückgeführt, eine Kindheit, die sie selbst nie hatte?

Die krankhaften borderline-esken Auswüchse der Professorin spiegeln sich in ihrem gesamten Leben wieder. Unfähigkeit sich von der Mutter zu lösen, Unfähigkeit selbstbewusst ihren Weg zu gehen, Unfähigkeit Freude zu verspüren die in der Unfähigkeit zu Lieben gipfelt. Nie hatte sie einen Freund, einen Liebhaber, das Gefühl von Liebe und Lust bleibt ihr verwehrt, die Freuden des Lebens unbekannt, schauspielerisch grandios dargestellt von Isabelle Huppert, ständig leidend unter dem unglaublich enormen psychischen Druck der dominanten Mutter, gespielt von Annie Girardot.

Das ganze Elend bleibt nicht nur auf psychischer Ebene sondern tritt verkörpert dem Zuschauer klar vor Augen: Selbstverletzendes Verhalten an der Scham, sexuelle Erregung durch Gewaltphantasien, Voyeurismus, Lustempfindung beim Urinieren als das höchste ihrer Gefühle: Masochismus sich selbst und Sadismus ihren Schülern gegenüber zeigt klar die Auswüchse vergangenen Fehlverhaltens. Wie Kohut ihre Schüler in psychische Abhängigkeiten bringt und massivstem Druck aussetzt, bis einer nach dem anderen daran zerbricht spiegelt ihre eigenen Erlebnisse wieder und erfährt den Höhepunkt in ihrer Beziehung zu dem wesentlich jüngeren Studenten Walter Klemmer, der sich hervorragend an Schubert und seiner Liebe zu Erika beweist, aber brüsk nicht nur zurückgewiesen sondern auf sexuell niederträchtigste Art blamiert, kontrolliert und unterdrückt wird bis hin zum traurigen Finale des Films.

130 Minuten, die der Zuschauer alleine ausharren sollte. Spaltet er doch letztlich die Gemüter in Bewunderung ob diesen auf psychischer Ebene unglaublich brutalen Films und in Ablehnung und Unverständnis. Cannes 2001 hat dies deutlich gezeigt: Der Film erntete Begeisterungsstürme und Buh-Rufe, nie jedoch ein Mittelmaß. Er polarisiert, zeigt schonungslos unsere Realität, verborgene Geheimnisse, menschliche Abgründe. Erinnerungen und Parallelen zum österreichischen Film "Hundstage" werden wach und begründen ein neues Genre.

Am Ende des Films verbleibt der Zuschauer ohne Lösung, ein beklemmendes Gefühl der Zwiespalt bleibt. Der Film beantwortet keine Fragen, gibt keine Patentrezepte, Lösungen oder Vorschläge. Er zeigt. Schonungslos. Rücksichtslos dem Rezipient gegenüber. Ohnmächtig dem ganzen zu entrinnen, unfähig abzuschalten und zwischendurch dringend benötigten Abstand zu erhalten. (8/10)

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