Review
von Leimbacher-Mario
Italiano vero
Blut ist dicker als Wasser. Blöd nur, wenn dieses durch schlechten Charakter und den mörderischen Einfluss der Grossstadt vergiftet wird... "Rocco e i suoi Fratelli" ist eines der grundlegenden Epen der Kinogeschichte. Eine Familiengeschichte, die zwar dick aufträgt und ganz weit ausholt, doch nie kitschig oder aufgesetzt wirkt. Luchino Visconti war einer der wenigen Meister des epochalen Melodramas, was er hier mit dem Neorealismus mischt. Und dieser dreistündige Ritt durch eine gebeutelte Familie, ist gleichauf mit "Der Leopard" die Spitze seines legendären Könnens. Größeres wird man nicht nur im Cinema Italiano nicht finden. Und weil die Handlung im Gegensatz zu vielen seiner anderen Großtaten in diesem Jahrhundert spielt und sehr aktuell wirkt, ist es wohl auch sein zugänglichstes Werk und der perfekte Ausgangspunkt in sein Regieschaffen. Von der Länge und der Lautstärke und dem südlichen Temperament sollte sich niemand abschrecken lassen - besser kann man die Zeit kaum investieren!
Wir folgen fünf Brüdern und ihrer Mutter bei ihrer Ankunft Mailand - einer völlig neuen, kalten und lauten Welt, da sie so ziemlich aus dem südlichsten Zipfel des italienischen Festlandes stammen. Nun sehen wir, wie die fünf Brüder mit dem Leben in Norditalien umgehen, jeder auf seine eigene Weise. Von einer reizenden Prostituierten, die einen Keil zwischen zwei der Brüder treibt, über das familiäre Boxtalent bis hin zum Militärdienst oder simplen Dingen wie dem ersten Schnee, den die Familie erlebt - die Stadt und das Leben hinterlassen ihre Spuren und schälen die sehr unterschiedlichen Charaktere der fünf Brüder gnadenlos raus... "Rocco..." malt ein Bild über Heimweh und Eingewöhnung, Verführung und Standhaftigkeit, Charakterstärke und Schwäche, Bruderliebe und Zerstörungswut. Es wird viel geschrien und geflucht, gefeiert und geliebt, gekämpft und gebangt. Es ist das ganz große Leben und Sterben. Emotionen bis unter die Ecke. Und jeder, der italienische Wurzeln, Familie oder enge Freunde hat, wird Dinge wiedererkennen können. Heißes Blut und kalte Füße. Krallen und Samtpfoten. Ehre und Scham. Tradition und Kriminalität. Schlawiner und Charmeure. Aufbrausende Mamas und eine Familienbande, gleichzeitig unkaputtbar sowie höchst selbstzerstörerisch. Das. Ist. Der. Wahnsinn. Und der elegante Rota-Score und die edlen Rotunna-Bilder sind die Sahne auf einer Torte, mit mehr Böden als man anschneiden kann. Larger than Life. Und dennoch höllisch nachvollziehbar. 180 Minuten voller Feuer und Familie, Leben und Lieben, Träume und Schäume. Vom Heiligen über das Produktionsband bei Alfa Romeo zum Mörder. Rumms!
Fazit: größer als das Leben, breiter als das Kino, dramatischer als der Tod, stärker als die Liebe, lauter als die Schreie einer italienischen Nonna und majestätischer als die meisten Schlösser unserer Könige. Viscontis "Rocco und seine Brüder" ist ein tiefschürfendes Familienepos, das mit nahezu nichts in der Historie der laufenden Bilder vergleichbar ist. Gigantisch!