Jesus Krawallinski
Es sollte die Rückkehr auf die Bühne werden: Klaus Kinski tritt am 20. November 1971 in der Berliner Deutschlandhalle nach beinahe zehnjähriger Abstinenz wieder als Rezitator auf die Bühne. Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre feierte er mit seinen Rezitationsabenden beispiellose Erfolge. Sein Auftritt mit dem neuen Testament unter dem Titel „Jesus Christus Erlöser“ sollte jedoch unplanmäßig verlaufen. Der gleichnamige Film, zusammengeschnitten aus Originalaufnahmen von damals, bietet nun die Chance, das Spektakel selbst zu sehen.
Ende 1971 ist der Stern Kinskis im Kino schon im Abstieg begriffen. Die Erfolge, die der Mime ab Beginn der 60er Jahre in den Edgar-Wallace-Filmen und den Italo-Western feiern konnte, neigen sich dem Ende zu, als die italienische Filmindustrie Anfang der 70er Jahre in die Krise gerät. Der Spaghetti-Western, wie er geringschätzig genannt wird, wird in der Gunst der Zuschauer zunehmend durch die Martial-Arts-Filme aus Fernost abgelöst. Die Italiener halten mit einer immer größeren Flut von zunehmend billiger und schlechter produzierten Filmen entgegen. Kinski, der Ende der 60er Jahre noch Topgagen verbuchen konnte, die er ebenso schnell durch seinen aufwändigen Lebensstil verpulverte, ist ab Beginn der 70er gezwungen, sein Geld durch einen immer volleren Drehplan herbeizuschaffen. Hinzu kommt, dass Kinski nicht mehr gern für größere Filme verpflichtet wird. Einerseits passt er nicht mehr richtig in den Italo-Western, der sich zunehmend in den komischen Bereich entwickelt, den die neuen Stars wie Bud Spencer und Terence Hill repräsentieren, andererseits hat Kinski es sich durch sein exzessives, exzentrisches Auftreten mit breiten Teilen der italienischen Filmlandschaft verscherzt.
Kinski muss realisieren, dass es in Italien nicht mehr weitergeht. Er ist gezwungen, seinen luxuriösen Lebenswandel aufzugeben. Zwar wollte Kinski nicht nach Deutschland zurückkehren, das Land, welches er vor einem halben Jahrzehnt verlassen hatte, um im damals blühenden Filmparadies Italien Topstar zu werden, denn eine Rückkehr glich in seinen Augen dem Eingeständnis eines Scheiterns, doch die große Wahl hatte er nicht. Die Idee, mit dem neuen Testament auf Tour zu gehen, hatte er bereits zehn Jahre zuvor gehegt. Sogar ein Vertrag über Auftritte und die Aufzeichnung einer Schallplatte hatte es schon gegeben, doch diesen Vertrag ließ Kinski seinerzeit platzen. Nun kam ein neues Angebot: 1 Million Deutsche Mark für eine Tournee mit dem neuen Testament. Für Kinski eine Menge Geld. Der Auftakt der Tournee sollte in Berlin stattfinden. In der Zwischenzeit hatte Kinski auch schon einen weiteren Vertrag unterzeichnet: der junge deutsche Filmemacher Werner Herzog, zu jener Zeit noch relativ unbekannt, wollte Kinski unbedingt für einen gemeinsamen Film verpflichten, „Aguirre – Der Zorn Gottes“. Schon Ende der 60er Jahre hatte Herzog versucht, mit Kinski Kontakt aufzunehmen. Er kam aber erst gar nicht dazu, Kinski ein Angebot zur Zusammenarbeit zu machen, denn Kinski, zu jener Zeit auf dem Höhepunkt seines Ruhmes in Italien, hatte schlicht und ergreifend keinen Bock auf einen Regisseur aus Deutschland der zu jener Zeit, obgleich begabt, noch keinen wirklichen Erfolg zu verbuchen hatte. Wenige Jahre später änderte sich die Lage. Die Tournee mit dem neuen Testament und die Verpflichtung als Hauptdarsteller in Herzogs Film „Aguirre“, das Drehbuch hatte Herzog speziell auf Kinski hin ausgearbeitet (dieser bezeichnete es später als „analphabetisch primitiv“), sollten ein Neustart für Kinskis ramponierte Karriere werden.
Kinski kam zu spät. Wenige Wochen zuvor war das Musical „Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber gestartet und wurde zum Megahit. Die Hippie-Kultur fand zunehmend Freude an der Figur Jesus. Als Kinski sich, 45-jährig mit langer Mähne, Schlaghose und Blumenhemd, nun anschickte, mit dem neuen Testament aufzutreten, geriet er zwischen die Fronten. Zum einen gab es diejenigen, die seine Rezitationstournee als das Aufspringen auf die seinerzeit populäre Jesus-Welle verstanden, zum anderen gab es zahlreiche Leute, die Kinski in keinster Weise mit der Botschaft von Jesus zur Deckung bringen konnten. Ein millionenschwerer Star mit zahlreichen Skandalen und gutdokumentierten Ausbrüchen, der den Aufruf von Jesus zur Enthaltsamkeit, Friedfertigkeit und Mitmenschlichkeit zum Vortrage bringt, das war für viele zu viel. Kirche, Presse und Hippies waren sich in ihrer Ablehnung einig. Dazu war durch vergangene Auftritte bekannt, dass es äußerst leicht war, Kinski durch Zurufe zum Ausrasten zu bewegen. So kamen viele am 20. November 1971 in die Deutschlandhalle, um Kinski toben zu sehen.
Es dauert keine 5 Minuten, bis Kinski, durch die ersten massiven Zwischenrufe gestört, den ersten Wutanfall erleidet. Es soll auch im weiteren Verlauf des Abends so bleiben: Kinski tritt immer wieder entnervt von der Bühne ab, um nach einiger Zeit zurückzukehren und aus noch vollerem Herzen vorzutragen. Tumulte, Diskussionen, Ausraster Kinskis. Zweierlei fällt auf: zum einen, dass Kinski es mit seinem Vortrag sehr ernst gemeint hat, er ist passagenweise derart aufgewühlt und durch den Gegenwind des Publikums angeschlagen, dass er mit Tränen und Schaum im Mundwinkel spricht, schreit, tobt. Zum anderen die unglaubliche Diskutierwut des Publikums. 1971 war eine ganz andere Zeit. Ständig unterbrechen Störer mit Einwürfen das Programm, treten auf die Bühne, um zu diskutieren, beschimpfen Kinski als Faschisten. Eine aufgedrehte Zeit, in der die Atmosphäre des Straßenkampfes und des Aufbegehrens gegen Autoritäten jeglicher Art allgegenwärtig war. Umso schmerzhafter für Kinski, der sich mit dieser Atmosphäre sicherlich identifiziert hat, dass sich genau diese nun gegen ihn gewandt hat. Kinski, der im Vortrag vor allem die Sicht auf den Revolutionär und Aufrührer Jesus wendet, erscheint als widersprüchliche Figur. Er predigt nicht nur von Dingen, die im Gegensatz zu dem stehen, wofür er selbst steht, er duldet bei all seiner Liebe zum Ungehorsam und zur Aufruhr keinerlei Auflehnung gegen sich selbst. In diesen Momenten ist Kinski absolut autoritär. Er verlangt seinem Publikum absolute Ruhe und ein Höchstmaß an Konzentration ab und möchte der unbestrittene Chef im Ring sein. Das Resultat ist, dass Kinski und das Publikum sich gegenseitig aufheizen und provozieren. Von den 3.000 Zuschauern, die gekommen waren, sind am Ende des Abends nur wenige hundert übrig geblieben, die sich das Programm Kinskis zu Ende anhören.
Nach einem weiteren Auftritt in Düsseldorf (Philippshalle) wird die Tournee aufgrund der Pleite des Veranstalters abgebrochen. Kinski ist ob der Ablehnung und der Verhöhnung seiner Person in der Presse psychisch angeschlagen und nimmt die Dreharbeiten an „Aguirre – Der Zorn Gottes“ mit Herzog auf. Die größten internationalen Erfolge, die der beginnenden Hass-Liebe Kinski/Herzog und deren gemeinsamer Arbeit an fünf Filmen entspringen, stehen noch bevor. Der Dokumentar-Film „Jesus Christus Erlöser“ erhält von mir das Prädikat besonders wertvoll. Er erzählt nicht nur etwas über den Ausnahmekünstler Kinski, sondern auch eine Menge über die Stimmung Anfang der 70er Jahre. Eine ähnlich intensive Konfrontation zwischen Publikum und Performer kann man lange suchen. Überdies entfaltet Kinski gerade in der Konfrontation eine Manie, die sich genau auf der dünnen Grenzlinie zwischen Genie und Irrsinn, unfreiwilliger Komik und bemitleidenswertem Hineinsteigern in eine Rolle bewegt.
10 von 10 Punkten, Kinski ist und bleibt unerreicht.