Review
von Leimbacher-Mario
Schmachtreif
Claude Chabrol, Kritiker gone Meisterregisseur, hat viele tolle, ganz feine Filme inszeniert, man muss alleine mal auf seine Kollaborationen mit Isabelle Huppert gucken und kommt aus dem Staunen schwer heraus. Mehr Filme gemacht als seine noch bekannteren Kollegen mit ähnlichen Werdegängen (Godard, Truffaut), wesentlich fleißiger, ausdauernder und länger im Game als sie und doch immer etwas in deren Schatten. Spätestens nach dem Schauen von „Le Boucher“ fehlen einem dafür aber jegliche Gründe, denn der unheimlich menschelnde und gefühlvolle, abgestufte und nuancierte, ruhige und intensive Krimi irgendwo zwischen Hitchcock und Nouvelle Vague ist in seinem Understatement durchgehend schlicht atemberaubend. Ich kann es nicht anders beschreiben. Das ist beeindruckend und bleibend. Wir folgen einer attraktiven, alleinstehenden Grundschullehrerin und einem groben, oft etwas unbeholfenem Schlachter in einem französischen Dorf, die sich annähern und emotional, sexuell und menschlich umeinander herum tänzeln, immer zwischen Angst, Lust und Respekt pendelnd - denn im Umland und später auch in der idyllischen Kleinstadt passieren bestialische Morde, die eigentlich nur einer auf dem Gewissen haben kann...
Heutzutage (oder ehrlich gesagt schon seit den späten 80ern) hätten Thriller mit diesem Storygerüst absurdeste Wendungen geschlagen und dick, blutig aufgetrumpft, etliche Verdächtige präsentiert und am Ende wahrscheinlich noch unsere unschuldige Heldin als Killerin präsentiert. „Le Boucher“ geht den völlig gegensätzlichen Weg - und gewinnt damit auf voller Linie für meinen Geschmack. Denn wenn klar ist, wer der Mörder ist, kann man sich als Zuschauer umso mehr auf die Gefühle, Gesichtsausdrücke und genialen Details konzentrieren, die viel mehr offenbaren, kippen, unterwandern, verschleiern und verdrehen, als es jeder moderne WTF?!-Twist am Ende je könnte. „Le Boucher“ ist zudem noch extrem elegant, bietet einige von Frankreichs damaligen schauspielerischen Schwergewichten und etliche Grautöne, Bewegungsgründe und psychologische Nuancen, die zum immer wieder Besuchen einladen. Beim ersten Sehen kann der Film etwas einschläfernd, ereignislos und nach heutigen, oft bescheuert vorgekauten Gewohnheiten fast müde erscheinen - doch mit jeder weiteren Begegnung kommt man seinem schockierenden, melancholischen und nachdenklich stimmenden Kern immer näher. Ob man das will, steht dann natürlich auf einem ganz anderen Blatt... Denn die Wahrheit ist nicht immer so einseitig und klar, wie sie erscheinen mag.
Fazit: ein fauliger Strauß Mett - „Le Boucher“ ist ein spielerischer, sehr intelligenter und ambivalenter Thriller und nicht umsonst Chabrols wohl bekanntestes Werk. Beobachten, fühlen, verstehen. Sensible Schockwellen. Ganz nahe an einem Meisterwerk und mit enormen emotionalen Wiedererkennungswerten.