Was für ein dankbares Opfer dieser Film doch darstellt; zum schnellen Verriss wegen der Bedienung menschlicher Klischees, plakativer Phrasendrescherei, einem Mangel an Differenzierung oder aber auch an eindeutiger Stellungnahme.
Man müsste aber eigentlich, trotz aller Fehler, die dieses von Produzentenseite sicherlich auch kalkulierte Werk in sich trägt, ebenso konstatieren wie mutig es von einem wenig erfahrenen jungen Regisseur ist, sich diese ungeheure Bürde aufzuladen und damit so vielen verschiedenen, äußerlich kaum miteinander vereinbaren Ansprüchen und Erwartungen aus unterschiedlichsten Publikumsecken Rechnung tragen zu müssen – will er seinen Film zum effektiven, nicht unbedingt nur kommerziellen aber doch auch künstlerischen Erfolg führen. Einen Stoff wie diesen umzusetzen, das ist ohne jeden Zweifel eine beklagenswerte und im Grunde unmöglich optimal zu erfüllende Aufgabe um die Dennis Gansel niemand beneiden kann. Zumal sein Talent zwar vorhanden, aber nicht überreich ist. Betrachtet man sich seinen thematisch mit „Die Welle“ eng verwandten Film „NaPolA“ (2004) über eine Eliteschule der Nazis, so fällt auf, das der Mann seinem Sujet nicht gewachsen ist, wohl aber der Arbeit mit seinen Darstellern und formalen Ausdrucksmöglichkeiten.
Ich habe nach die „Die Welle“ enttäuscht, aber bereichert das Kino verlassen. Abgesehen davon, das der spektakulär, zu spektakulär inszenierte Film weder großartig, noch außerordentlich zu nennen ist, hat er doch dazu geführt, das ich mich während des Film so intensiv wie nur selten zuvor mit der Frage beschäftigte, was Klischees eigentlich sind, bzw. ob der extrem diffamierende Beigeschmack dieses Begriffs Allgemeingültigkeit besitzt, ob er berechtigt ist.
Nach „Die Welle“ würde ich diese Frage mit einem klaren „Nein“ beantworten. Der Film ermöglichte mir mit meinen 20 Jahren diese konkreten Überlegungen in dieser Form unter anderem deswegen, weil er sich nicht vollkommen aber doch relativ eindeutig auf den Querschnitt heutiger (deutscher) Jugendkultur, vorgestellt im vertrauten Umfeld ihrer Schule und ihrer abendlichen Zusammenkünfte, konzentriert und dabei durchaus einige Phänomene aufgreift, die (bis jetzt noch) unmittelbar mit der Gegenwart verbunden sind und nicht auf jede beliebige Generation anwendbar wären. Auch wenn die meisten der dargestellten Konflikte universell sind. Besonders wichtig im Bezug auf den heutigen Zeitgeist: Das die gesellschaftlichen Werte von Jugendlichen heute bei weitem nicht mehr so konkret aussehen wie einst. Diejenigen der Eltern wirken meist wie grotesk überholte Abziehbilder, die der Freunde sind für die eigene Person nicht selbstverständlich gültig, man hängt quasi in der Schwebe. Auf dieser Grundlage basiert das einnehmende Lauffeuer der „Welle“ um dass es im Film – augenscheinlich abstrahierter und sensationalistischer als in seiner Vorlage - geht.
Eine Schulklasse, die sich während einer Projektwoche mit dem Oberpunkt „Autokratie“ in einen von stringenter Ideologie, die jedem eine Chance zu bieten scheint, berauschten Haufen weißbehemdeter Elite-Kämpfer verwandelt, angeführt von einem Lehrer, der sich über die Auswirkungen seines pädagogischen Versuchs weniger bewusst ist als über den persönliche Erfolg, den er als Lehrer verbuchen kann.
Überdenkt man mit größtmöglicher Konsequenz die Gefahren und Schwierigkeiten, die bei einer filmischen, abendfüllend gehaltenen Umsetzung dieses Prozesses zutage treten müssen, kommt man nicht umhin, Regisseur und Autor Gansel zumindest Respekt zu zollen und seinem Film das Prädikat eines akzeptablen wenn auch keinesfalls wirklich goutierbaren Kompromisses aufzudrücken. Nur in vereinzelten Momenten bewegt sich der freilich zu jeder Zeit mitreißende Film, oder genauer: Das Drehbuch gefährlich nahe am Abgrund, immer dann wenn aufgrund des zeitlich und durch die große Anzahl von Charakteren eingeschränkten Rahmens bestimmte zwingende Situationen, Fragen oder Entscheidungen in einigen wenigen, mit ausgetretenen ideologischen „Meinungsmacher“-Phrasen „abgehakt“ werden mussten um den Film in seinem vorbestimmten Muster zu halten.
Will man dem Film also mit Respekt und ohne überhebliche (und in diesem Fall zweifellos nachvollziehbare) Polemik begegnen, muss man ihn aus einer zweckmäßigen Perspektive heraus betrachten: Der Film hat sich, wie Pier Paolo Pasolinis ungleich differenzierterer aber nicht minder radikaler „Die 120 Tage von Sodom“ vorgenommen, die Mechanismen einer antiindividualistischen, totalitären Gesellschaftsform bloßzustellen – und ohne die Option auf selbige wäre das daraus resultierende Politikum nicht möglich –, nenne man sie nun Sozialismus oder Faschismus. Ihre Entwicklung wird deutlich, auch gerne überdeutlich erklärt – und gemessen an dieser Vorgabe ist seine Bedienung in der dramaturgisch umfangreichen Kartei von Charakter-Klischees erstaunlich zurückhaltend.
Ähnlich wie der kongeniale japanische Kollege „Battle Royale“ – der aber den ohnehin schon unterschwelligen Faschismus der japanischen Gesellschaft auf eine weitere, noch überspitztere Ebene hievte was angesichts des strengen, uniformierten japanischen Schulsystems nicht verwundert – zwingen das Konzept und die Zielsetzung des Films geradezu die Verwendung von Stereotypen auf, denn hier ist ein Rundumschlag im Sinne des Erfinders. Ausschließlich aus der Perspektive eines Einzelnen diesen Prozess zu schildern, das war nach Meinung der Autoren (und wohl auch der Produzenten) nicht umfassend genug. Würde man sich um wahrhaftige Figuren bemühen bestünde die Gefahr, dass der Zuschauer sich zuweit in deren innerem Kosmos verläuft, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr erkennen könnte. Dieser relativen Gefahr - die besonders von dem anvisierten Massenpublikum ausgeht - weicht "Die Welle" wenig elegant, aber effektiv aus. Was hingegen wirklich erfreulich ist: Aufdringliche Kontextualisierungen mit der deutschen Vergangenheit werden weitgehend vermieden.
So verhältnismäßig differenziert wie hier mit den Stereotypen umgegangen wird, aus denen die Klasse des von Jürgen Vogel griffnah belebten Lehrers und dessen Umfeld zusammengesetzt ist, das verdient Bewunderung. Erstaunlich, wie gut die wackelige Gratwanderung zwischen glaubwürdiger menschlicher Integrität und der „Sache“, einer dem Konzept untergeordneten Simplifizierung doch funktioniert. Wie vertraut die Figuren auf mich als jungen Menschen der beinahe gleichen Generation wirken und wie wenig man ihr Handeln verurteilen kann, weil man sie so gut zu kennen glaubt. Selbst riskante Schlenker wie die mit der „Welle“ aufkeimende Beziehung zwischen dem Sportchampion der Klasse (und männlichen Protagonisten) Marco und seiner Klassenkameradin Lisa kann man hinnehmen denn diese Klassenkameradin sieht in dem Misstrauen, das Marcos Freundin Karo der „Welle“ entgegensetzt, ihre Chance, sich dem heimlich verehrten Jungen durch die gemeinsame Solidarität zur Gruppe anzunähern. Wie überhaupt jeder persönlich motiviert ist und eben nicht imstande ist, den Grundgedanken der neuen Gemeinschaft aus dem privaten Kontext zu reißen. Hier meint es der Film eindeutig etwas zu gut, wenn er etwa elterliche Vernachlässigung und unter anderem daraus resultierende Charakterschwäche und Unsicherheit im Falle der Figur des schüchternen und später feuereifrigen Tim meterdick aufträgt und dabei einigen Respekt für die an diesem Drehbuch- und Regiefehler vollkommen unschuldige Figur verspielt. Gleiches gilt auch für die Bildgestaltung des Films. Ist sie nur „schick“ nach MTV-Maßstäben oder passt sie sich nicht vielleicht Szenenweise durch ihre strenge Farb- und Lichttrennung (wie in dem Schulgebäude) doch an die Thematik des Films an? Man weiß es nicht so recht…
Die Diskussion darüber, ob man „Die Welle“ als kommerzielles Spekulationsprodukt überhaupt ernsthaft rezipieren kann oder ob in den makellosen Bildern nicht vielleicht eine unangebrachte Ästhetisierung steckt wäre meines Erachtens nicht gerecht und bequem. Man kann es nicht jedem recht machen und Gansels Fehler ist genau der, dieses zu versuchen. Dem Kritiker und ernsthaften Cineasten ist sein Film zu flach und plakativ, dem (jugendlichen) Mainstream-Publikum den Zuschauerreaktionen im Kino nach anscheinend sogar zu direkt und unmittelbar. Eine Schnittmenge scheint hier fast unmöglich und die Tendenz, sich der letzteren Publikumsschicht anzunähern, unter anderem durch einen übertrieben dramatischen, in Richtung des Genre-Kinos ausschlagenden Showdown, schadet dem Film eindeutig. Mich hat er zu der Frage angespornt, wie klischeehaft Klischees eigentlich sind, wenn sie ihrerseits doch nur den nächsten Grad nach einer zweckmäßig simplifizierten Realität sind und somit einen sehr direkten Kontakt mit selbiger wahren können, springt man richtig mit ihnen um. Die Frage ist einfach, die Antwort darauf hat einen langen Arm – und sollte, wenngleich sie diesen Film auch nicht adelt, zumindest ausreichen um ihn vor polemischen Vernichtungsmanövern zu schützen. Heiligt der Zweck die Mittel? Als Karo ein Flugblatt gegen die „Welle“ und damit auch ihre Klassenkameraden erstellt, bejaht sie das. Als Rezipient dieses Films möchte man allerdings eher mit einem zögernden „Jein“ antworten.