„O lieb´, solang du lieben kannst!
O lieb´, solang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!" - Ferdinand von Freiligrath
Es ist die Botschaft dieser Strophe, die der Film Kirschblüten - Hanami transportiert: Menschen erkennen erst dann den Wert des Gegenüber, wenn diese Person nicht mehr da ist und man sie vermisst. Doch dann ist es zu spät, da Tod den apodiktischen Endpunkt des Lebens darstellt. Man macht sich Vorwürfe, viele Sätze beginnen mit „Hätte ich gewusst...", wenn man den Verlust dieses Menschen betrauert. Doris Dörrie liefert nach Nackt und Der Fischer und seine Frau erneut einen zwischenmenschlichen Problemfilm ab, der jedoch abseits von Beziehungsproblemen, die hier unausgesprochen bleiben, von seiner Langsamkeit, von seinen echt wirkenden Figuren und der Sezierung des ganz normalen Alltags im Rentenalter lebt.
Nachdem der schwer kranke Rudi (Elmar Wepper) zeitlebens vor lauter Pflichtbewusstsein und Arbeits-Pedanterie nie auf die Wünsche seiner Ehefrau Trudi (Hannelore Elsner) einging, ist sie plötzlich verstorben. Nach Japan wollte sie, die Kultur dort und den traditionellen Butoh-Tanz, der sie schon lange faszinierte, näher kennen lernen. Doch daraus wurde nichts. Es ist bei einer kurzen Reise geblieben: Erst vom tiefsten Bayern nach Berlin, zu den erwachsenen Kindern, welche ihre zu Besuch kommenden Eltern als überflüssig, als anstrengenden Klotz am Bein, der das Gleichgewicht der eigenen Familie stört, wahrnehmen. Dann an die Ostsee, das weite Meer. Dort verstirbt Trudi und Rudi besucht nach langer Zeit endlich den in Japan weilenden Sohn Karl (Maximilian Brückner) und glaubt dort, dass er das Leben, was Trudi ihm aus Liebe opferte, wieder gut machen zu können.
Von der Spleenigkeit oder dem jugendlichen Schwung ihrer Filme Nackt und Der Fischer und seine Frau ist bei Kirschblüten - Hanami nicht viel übrig geblieben. Dies stellt jedoch keinen Kritikpunkt dar. Doris Dörrie wirkt mit diesem Film in ihrem Stil reifer, gibt ihren hervorragend aufspielenden Schauspielern - allen voran Hannelore Elsner als stets fürsorgliche, aber letztendlich sich nie selbstverwirklichende und glückliche Mutter/Ehefrau und Elmar Wepper als anfangs brummiger und bornierter, später aufgeschlossener Ehemann/Vater, der unkonventionelle Trauerarbeit leistet - viel Zeit zur Entfaltung ihrer vielschichtigen Charaktere, was dem Film eine stake Intensität verleiht, die trotz langer Szenen, wo auf der Aktionsebene wenig passiert, nie in den Verdacht kommt, zu langweilen.
Dörrie vermag mit ihrem Film in der ersten Hälfte ein stimmiges, da sehr realistisches Porträt einer oberflächlich glücklichen, aber hintergründig rumorenden Familiensituation zu zeichnen, wenn die bajuwarischen Großeltern von ihren vom Lifestyle geschädigten, überheblichen Kindern als Last empfunden werden, die hoffentlich bald durch ihre Abreise von ihnen genommen wird. Sie werden toleriert, da sie ja die Verwandtschaft sind, aber nicht akzeptiert, da sie keine Rolle im Leben der erwachsenen Kinder spielen und diese nicht wissen, was sie mit diesen „alten Säcken" anfangen sollen. Als dann beinahe die gesamte Familie beim Essen zusammensitzt, nachdem Trudi beerdigt wurde, machen sich dann alle Vorwürfe, die zwar im Angesicht des vormaligen schnippischen, ja frechen Umgangs mit Rudi und besonders Trudi gerechtfertigt, aber genau so überflüssig sind, da sie die Zeit nicht zurückdrehen und diese unschöne Angelegenheit nochmals ändern können.
Bis zu diesem Zeitpunkt überzeugt Kirschblüten - Hanami als intensives Charakterdrama. Dann, in der zweiten Hälfte des Films, geht Rudi jedoch nach Japan und beginnt, sich für die Angelegenheiten seiner Frau zu interessieren, soweit diese ihm bekannt sind. Dabei findet Autorin und Regisseurin Dörrie nicht die richtigen Mittel, dies glaubwürdig und frei von plumpem Kitsch zu zeigen. Wenn Rudi (Elmar Wepper) mit der Strickjacke und Kette seiner Frau durch Tokio läuft und dann seinen Mantel öffnet, um ihr, die in seinem Herzen (und ihren Kleidern?) weiterlebt, die schönsten Fleckchen zu zeigen, wirkt das unfreiwillig komisch und ebenso unglaubwürdig wie Rudis Wandlung zum weltoffenen Touristen, der er im Angesicht seiner großen Liebe zur bayrischen Heimat nie war und begeisterten Butoh-Tänzer (inklusive Make-Up und Kimono), der sich viel zu schnell mit der fremden japanischen Kultur arrangieren kann und sich in ihr eingelebt zu haben scheint. Der Film schmeißt an dieser Stelle jegliche Plausibilität über Bord und endet in einem wiederum sehr kitschigen Szenario, als sich Trudi und Rudi wieder gegenüber stehen.
Ebenso platt und mit dem Vorschlaghammer wird der Titel des Films erklärt: die in Japan blühenden Kirschblüten sind das Symbol für Vergänglichkeit, da die Knospen sich ebenso schnell öffnen wie auch wieder schließen. Dies sagt ein Unbekannter bei einem Ausflug mal so daher. Der guten ersten Hälfte des Films folgt eine melodramatische zweite, die in Sachen Intensität und Charakterzeichnung zusehends verflacht, weil sie seinem grandios agierenden Hauptdarsteller Elmar Wepper als einen nachdenklich-philosophierenden Esoteriker und Kulturmenschen, der er nicht ist, mit Frauenkleidern der Lächerlichkeit preis gibt. Diese Wandlung gerät allzu plump und unglaubwürdig als dass er überzeugen kann und spätestens, wenn auch Lieblingssohn Karl in Tokio seinen Vater über hat (und er dies am Telefon preis gibt, während Papi zuhört) und dieser sich mit einer ärmlichen, japanischen Schaustellerin anfreundet, wird der japanische Alltag zu sehr verklärt, wenn das mittellose Leben im Park und im Zelt doch ach so schön sind.
So gelingt es Doris Dörrie mit Kirschblüten - Hanami leider nicht, ihren inszenatorischen Reifeprozess bis zum Ende des Films durchzuhalten. Das Schlussbild ist dann auch der Tiefpunkt des Films, wenn auch zugleich dessen Rahmung: eine Postkartenansicht des Fujisan. Die Flachheit des Films, der sich zusehends in Bildern des bunten Treibens in Japan verliert, hat damit nach zuvoriger Tendenz dorthin ihren Höhepunkt erreicht. Dabei trügt auch all der manchmal garstige und manchmal leise Humor des Films (Stichwort: Kohlroulade) nicht über den eher unausgegorenen Plot hinweg (6/10).