Torkelnd erwacht Octave (Jean Dujardin) und muss sich erst einmal der Leiber entledigen ,die halb auf ihm liegen. Überall in seiner riesigen Pariser Wohnung liegen Leute herum, mal angezogen, mal halbnackt, mal völlig entkleidet. Auf dem Tisch sind noch Kokainspuren zu entdecken und etwas seltsames, dem er sich vorsichtig nähert - bis er zurückschreckt "Das ist Scheisse!". Er wankt weiter zum Bad, sieht sich sein fertiges Gesicht im Spiegel an und muss sich plötzlich übergeben. Er kotzt in die Badewanne und trifft dabei eine Halbnackte, die dort geschlafen hatte.
Mit dieser Szene stellt uns "39,90" den Protagonisten vor, dessen Tour de Force sich der Film in atemberaubendem Tempo widmen wird. Noch bevor es richtig losgeht, steht Octave hoch über Paris im strömenden Regen auf einem Dach, und springt. Während er fällt, blendet der Film zur ersten Szene über und erzählt seine Geschichte in einer Art Rückblick. Dabei bedient sich Regisseur Kounen keiner linearen Erzählweise, sondern setzt in schnell geschnittenen Szenen, die mit lauter Musik unterlegt werden, das Leben des Werbe-Kreativen, der für eine der grössten Agenturen in Paris arbeitet, puzzleartig zusammen.
Zu Beginn schildert Octave sich selbst und seine Umgebung, die Arbeit in seiner Werbeagentur und besonders seinen Partner Jean, genannt "Jeff "(Patrick Mille), mit dem er gemeinsam die Werbestrategien entwirft. Sein Ton ist selbstironisch und kritisch, schildert, welche Methoden er anwenden muss, um immer besonders cool und künstlerisch rüberzukommen, und bleibt dabei völlig ignorant gegenüber seiner Umgebung. Kounen entwirft hier einen zutiefst unsympathischen Charakter, der nur für sein Ego da ist, ständig auf Koks ist und sich in einer Umgebung aufhält, bei der Selbstdarstellung deutlich vor Kompetenz angesiedelt ist. Betont wird das noch durch seine Beziehung mit Sophie (Vahina Giocante), die er von sich selbst überzeugt anbaggert, mit ihr Sex in allen Varianten erlebt und dann komplett versagt, als sie ihm eröffnet, schwanger zu sein - der Kerl ist ein echter Kotzbrocken.
Zumindest hätte er das sein sollen, wenn "39,90" tatsächlich als beissende Satire auf die Welt des hohlen Scheins hätte funktionieren sollen. Der Betrachter wäre angewidert worden von deren unsinnigen und selbstzerstörerischen Spielchen und der Film hätte offenbart, um was für eine oberflächliche Horde es sich bei den Werbemenschen handelt. Doch das funktioniert aus zwei einleuchtenden Gründen nicht - erstens haben Werbeleute sowieso keinen guten Ruf und zweitens wurde der Film nach einem Buch von Frédéric Beigbeder gedreht, der selbst einmal in einer oberen Etage einer grossen Werbeagentur gearbeitet hatte.
Der Mann war sauer auf seine Kollegen, aber er versteht seinen Job und weiß, ernste und kritische Problemstories interessieren Niemanden. Sensationsgierige Geschichten, die den Voyeurismus der Betrachter befriedigen und sich dabei einen satirisch, demaskierenden Anstrich geben, um so mehr. Kein Wunder, das das Buch ein Bestseller wurde, und Beigbeder mit dem Film zufrieden ist. Das ist vor allem Jean Dujardin als Octave zu verdanken, der nach anfangs ätzender Selbstkritik zunehmend zum Opfer wird und niemals seinen Coolnessfaktor verliert.
Ob er sich, nachdem ihn seine Freundin verliess, völlig gehen lässt, sich als Künstler gegen einen selbstgefälligen und ausländerfeindlichen Kapitalisten gewitzt zur Wehr setzt, oder im Heim zwischen psychisch Gestörten auf Entzug landet - immer bleibt er lässig. Die Tragik, die sich hinter seinem Charakter und damit seinem Leben verbirgt, erschliesst sich nicht für den Betrachter, der zunehmend über alles Lachen kann - überfahrene Kinder, komatöse Partygäste und diverse Selbstmorde. Kounens Performance ist ein Sammelsurium aus Werbegrafik, Traumsequenzen, die man von der Realität kaum unterscheiden kann, und optisch und soundmässig knalligen Effekten, die genau das erzeugen, was sie vorgeblich zu kritisieren behaupten.
Man muss den Machern zugestehen, dass sie einen Film aus einem Guss entwarfen, dessen äussere Gestalt dem Inhalt der Story entspricht. Zudem ist "39,90" jederzeit unterhaltsam und teilweise regelrecht komisch, auch wenn der Abschlussgag die Handlung unnötig in die Länge zieht. Den kritischen Anspruch, den der Film zu Beginn andeutet, aber zunehmend hinter sich lässt, könnte man getrost vergessen, wenn die Macher nicht zum Schluss einen unpassend wie verlogenen Satz einblendeten, der darauf hinweist, dass man mit 10% des jährlichen Werbeetats, den Hunger in der Welt um die Hälfte reduzieren könnte.
Diesen Hinweis hätten sich Kounen und sein Autor sparen sollen, denn wenn ein Film beweist, warum so viel Werbung betrieben wird, dann "39,90", der auf der Klaviatur der Manupilation kaum etwas auslässt. Entsprechend bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück - zum Einen kann man sich gegen die hier angewendeten Methoden kaum wehren, weshalb der Film sein Publikum finden wird, zum Anderen erzeugt "39,90" Widerspruch, angesichts der angeblichen Intention und der - daran gemessen - nicht gelungenen Umsetzung (5/10).