Review

"Mulholland Drive" ist eine konzeptionelle Weiterentwicklung in Lynchs Spielfilmwerk, die seine Mixturen aus Realität und Traum - wie einige Jahre später in "Inland Empire" (2006) - nun so anlegt, dass der unvorbereitete Zuschauer in der Regel nicht nur nicht explizit auf die Ebenwechsel aufmerksam gemacht wird, sondern dass er - anders als zuvor in "Lost Highway" (1997) - nicht einmal vergleichweise früh im Film deutlich zu spüren bekommt, dass die innerfilmische Realität des Dargestellten in Zweifel zu ziehen ist.
Es fällt wohl erst im Nachhinein des ersten Betrachtens (oder auch erst zu Beginn des zweiten Betrachtens) auf, dass die Prätitelsequenz das Kommende bereits in Anführungszeichen setzt. "Mulholland Drive" beginnt [Achtung: Spoiler!] zunächst mit tanzenden Jugendlichen in einer sehr artifiziell montierten Einstellung. Langsam hebt sich glücklich lächelnd der Kopf einer jungen Frau ins Bild, hinter ihr ein älteres Ehepaar, dass ihr offenbar gratuliert. An diese Bilder - die offenbar keinen Anspruch einer objektiven Darstellung haben, knüpft eine Fahrt durch einen unscharfen Raum an; ein typischer Lynchscher Zwischenraum, unscharf, dumf tönend und der eigentlichen Realität halb entrückt. Die Kamera fährt langsam auf ein deutlich erkennbares, rotes Kopfkissen zu, nähert sich diesem frontal, bis das Bild im Schwarz versinkt. Erst nach gut 100 Minuten wird die Protagonistin des Films auf genau diesem Kopfkissen wieder erwachen. Die dazwischenliegende Laufzeit versinkt quasi im Kissen, im Reich der Träume. Erst die folgenden 40 Minuten liefern die Elemente, die eine Deutung des filmischen Hauptteils zulassen.
Lynch gibt sich jedoch gerne kryptisch und liefert einem die Zeit nach dem Erwachen keinesfalls in einer chronologischen Reihenfolge an - damit sich eine Gruppe von Lynchfans im fröhlichen Rätselraten und Spurenlesen austoben kann, während eine andere Gruppe von Lynchfans im verdrehten Mix der zerwürfelten Handlung den roten Faden gar nicht erst suchen muss sondern (durchaus im Einklang mit Esoteriker Lynch, der ohnehin bisweilen lieber fühlt als denkt) in Stimmungen und rätselhaften Bildern schwelgen kann. Den nicht erträumten Teil des Films zersplittert er also wiederum in etliche Rückblenden, die in der Chronologie des Films vor dem Traum spielen und sich dort in vielfach variierter Form wiederfinden.

Bei einer Wiedergabe der Handlung ist es also durchaus sinnvoll, die ersten zwei Drittel bis drei Viertel des Films zunächst zu übergehen. Die reale Ebene des Films setzt (sieht man von den wenigen Sekunden, in denen sich die Kamera zu Beginn ins Kopfkissen stürzt, ab) also ein, als Diane Selwyn (Naomi Watts) auf ihrem Bett erwacht. Die Ursache ist ein Klopfen an ihrer Haustür, das sie im Übergang vom Schlafen zum Erwachen der mysteriösen Figur eines Cowboys zuschreibt. Sie erhebt sich und öffnet einer Nachbarin, mit der sie die Wohnung getauscht hat - was als Element des Traums zuvor zu erfahren war. Die Nachbarin nimmt ihren noch bei Diane stehenden Aschenbecher mit sich - daneben liegt ein bläulicher Schlüssel - ung erzählt, es wären wieder zwei Polizisten bei ihr gewesen und hätten Diane gesucht. Diane ist wieder allein, bis Camilla (Laura Harring) erscheint, ihre Geliebte. Zunächst erscheint sie als sich schnell wieder verflüchtigender Tagtraum, kurz darauf in einer Erinnerungsszene: Diane und Carmilla lieben sich auf dem Sofa, während auf dem Tisch daneben der Aschenbecher der Nachbarin, aber nicht der Schlüssel liegt - eine Szene, die chronologisch noch vor dem Traum anzusiedeln ist. Die Liebesszene endet jedoch unglücklich: Camilla entzieht sich Diane, will die Beziehung beenden. "Es ist wegen ihm, nicht?" fragt Diane und in die Rückblende drängt sich eine weitere Rückblende: Diane steht an einem Filmset, wo Camilla als Star eine Szene mit dem smarten Regisseur Kesher (Justin Theroux) probt, der sie leidenschaftlich küsst. Hier fällt der Film in die übergeordnete Rückblende zurück: Diane verliert Camilla, die mit den Worten "Sei nicht sauer..." das Haus verlässt.
An dieser Stelle landen Film und Zuschauer wieder in der eigentlich kaum mal vorhandenen Gegenwart des Films: Diane (verheult, zermürbt, kurz: sichtlich verändert) liegt auf dem Sofa und masturbiert weinend. Es folgt eine neue Rückblende, die zeigt, wie Diane von Camilla auf eine Feier eingeladen wird - ein Wagen holt sie ab, Camilla empfängt sie, die Party entwickelt sich schnell zu einem Bündel an Erniedrigungen: Keshers Mutter entlockt Diane ihre Lebensgeschichte: sie kam nach einem gewonnenen Wettbewerb (hier erklärt sich auch die Prätitelsequenz) nach Hollywood, scheiterte bei einem Vorsprechen bei Regisseur Brooker, das die ihr damals unbekannte Camilla jedoch glorios gewonnen hat; beide Frauen freundeten sich an, Carmilla verschaffte Diane immer wieder kleinere Auftritte in ihren Filmen. Kesher erzählt erst vom Verlust seiner Exfrau an den Poolreiniger und gibt anschließend seine Partnerschaft mit Camilla bekannt, welche sich ihrerseits vor Dianes Augen mit einer hübschen Frau küsst. Diane gerät aus der Fassung, zerschlägt ein Glas - allerdings in einer neuen Rückblende, in der sie in einem Cafe sitzt, wo sie diese Ereignisse Revue passieren lässt. Ihr Gegenüber sitzt ein Auftragskiller, dem sie Camillas Foto aushändigt. Er holt einen bläulichen Schlüssel aus seiner Jackentasche und verkündet, sobald alles erledigt wäre, würde dieser bei ihr auftauchen. An der Theke steht ein Mann und schaut beide irritiert an. Per Überblendung gleitet der Film in einer weitere Ebene über: diesmal keine Rückblende, sondern eine Wahnidee, eine Angstvorstellung: hinter der Mauer am Cafe steckt ein unheimlicher Mann einen blauen Würfel (der Zuschauer kennt ihn bereits aus dem (Wunsch-)Traum, in welchem er das Einbrechen der (unglücklichen) Realität versinnbildlicht hat) in eine Papiertüte, aus der Miniaturausgaben des Retnerpaares der Prätitelsequenz hervorklettern. Unmerklich verschiebt sich diese Wahnidee in den Ausgangspunkt aller Träume, Rückblenden und Wahnvorstellungen, nämlich in Dianes Wohnung, wo sie gebannt den bläulichen Schlüssel betrachtet, bis sie von den imaginierten Rentnergestalten (nun in voller Größe), Rachegeister eines schlechten Gewissens und eingebildete Zeugen eines verpfuschten Lebenstraums, in ihr Schlafzimmer gedrängt wird, wo sie sich eine Kugel durch den geöffneten Mund in den Kopf schießt. Ein Mix aus vorbeiziehenden Bildern in den letzten Sekundenbruchteilen ihres Lebens schließt den Film ab.

Hätte Lynch den Film chronologisch erzählt - die Rückblenden (die dann keine mehr wären) der Reihe nach präsentiert, den Traum nachgeschoben, um mit den letzten Minuten zu schließen, die Diane in ihrem Leben noch verbleiben bis zu ihrem Suizid - wäre das Ganze sicherlich einfacher aufzudröseln, der Zuschauer könnte sich bereits beim ersten Betrachten vollständig auf eine Deutung des Traums als Verarbeitung des Lebens konzentrieren.
Es ist nun sicherlich berechtigt, darauf zu verweisen, dass Lynch obskur sein und rätselhaft sein will, allerdings übersieht man - bleibt man allein dabei - dass das Konzept so eine ganz andere Wirkung auf den Zuschauer ausübt, die über Ratlosigkeit und Verwirrung weit hinausgeht. Die bedrohlichen Situationen im Traum kommen freilich stimmiger zur Geltung, solange der Zuschauer sie nicht gleich als zunächst ungefährliche Verarbeitung von Alltagserlebnissen entlarvt. Zudem sitzt die fiese Pointe vom verpfuschten Leben so deutlich besser, überrumpelt den Zuschauer, der wie die Protagonistin aus einem schönen Traum fällt. Und dadurch, dass die Rückblenden bei geminderter Aufmerksamkeit (und welcher Zuschauer nimmt sie nicht hin und wieder an sich wahr) nicht unbedingt immer als solche erkannt werden, verdreht sich auch auf den ersten Blick das Prinzip von Ursache und Wirkung: für den Zuschauer sind es dann keine traumauslösenden Rückblenden, sondern Eintritte geträumter Elemente in die Wirklichkeit, was unheimliche Zufälle und schicksalhafte Verstrickungen suggeriert, ehe das Rückblendenprinzip gänzlich durchschaut wird.

Der Traumteil erweist sich, hat man den vergleichsweise kleinen Rahmen erstmal geordnet, als ernüchternde Darstellung von Wirklichkeitsflucht und -verformung, die dem Zuschauer im weniger gravierenden Ausmaß sicherlich nicht ganz unbekannt ist. Am bedeutsamsten wird sich dabei die Auflösung von Identitätsgrenzen erweisen, die die Traumfiguren aus verschiedenen Teilaspekten realer Vorbilder zusammensetzt.
Zunächst beginnt der Traum jedoch mit Dianes Fahrt zu Camillas Party. Nur dass diesmal Camilla im Wagen sitzt und Fahrer und Beifahrer ihr als bezahlte Killer nach dem Leben trachten. Doch anders als in der Realität (die Bestätigung von Camillas Tod über den bläulichen Schlüssel erhält Diane offenbar erst nach ihrem Traum) ist Camilla hier ihr Überleben sicher. Einen für alle anderen tödlichen Unfall überlebt sie, jedoch ohne jedes Gedächtnis, und sucht Unterschlupf in einem leeren Haus. In dieses zieht die junge Betty ein, bei der es sich um Diane handelt, die im Traum den Namen der Kellnerin des Cafes annimmt. Eben diese Kellnerin heißt im Traum Diane und pflegt Kontakte mit den Auftragskillern, fischt sich sogar Zigaretten aus der Tasche des einen, welcher in der Realität aus dieser Tasche den blauen Schlüssel, die Bestätigung des gelungenen Mordanschlages, zückt. Betty reist als angehende Schauspielerin an, bekommt am Flughafen Glückwünsche vom Rentnerpaar der Prätitelsequenz geschenkt - in der Realität womöglich Dianes Großeltern, im Traum jedoch kontaktfreudige Fremde - welches im davonfahrenden Taxi in dämonisches Gelächter verfällt. Camilla, die sich hier Rita nennt (nach Rita Hayworth, die sie auf einem Plakat zu "Gilda" (1946) betrachtet), schließt mit Betty Freundschaft. Gemeinsam will man ihre Identität ergründen. Gleichzeitig wird aber auch die Geschichte Keshers geträumt, der hier durchgängig der vom Schicksal gebeutelte, aber duldsame Antiheld ist. Böse Dunkelmänner (Diane hat sie in der Realität alle auf Camillas Party gesehen), zwingen ihm eine Besetzung für die Rolle seines Films auf, er ertappt seine Frau mit dem Poolreiniger, der ihn böse vermöbelt und kommt in einem schäbigen Hotel unter. Aus Geldgründen nimmt er ein angeratenes Treffen mit einem ominösen Cowboy (auch er war auf Keshers Party) an, der ihm eindringlich rät, die Hauptrolle mit Camilla Rhodes zu besetzen (eine seltsame Szene, die - Lynch-typisch - unausgesprochene Drohung mit grotesker Absurdität vermengt). Die Camilla Rhodes des Traums ist jedoch nur teilweise die echte Camilla. Äußerlich gleicht sie völlig der Frau, mit der sich Camilla auf ihrer Party vor Dianes Augen geküsst hat.
Als Diane als Betty bei Brooker ein Vorsprechen mit großem Beifall besteht, weist Kesher (der hier offenbar auch Elemente des echten Brookers in sich vereint) Camilla Rhodes gezwungenermaßen die Hauptrolle zu (in dem Film, der dem Titel nach eigentlich Brookers ist, bei dem Diane Camilla tatsächlich kennenlernte, den Kulissen nach zu urteilen aber auch der Film, bei dem sich Camilla und Kesher vor Diane geküsst haben). Der flüchtenden Betty (offenbar flieht Dianes Traum-Ich vor einem Ereignis, das an die Realität erinnert), die Kesher zufällig erblickt und der er völlig erlegen ist, kann er nach einem Austausch sehnsüchtiger, melancholischer Blicke nur mit Dackelaugen hinterherschauen - Im Traum begehrt er also nicht wie in der Realität erfolgreich Dianes Geliebte, sondern ist selbst der unglücklich Verliebte, der es auf Betty abgesehen hat. (Im übrigen eine großartige Szene, in der Camilla Rhodes Linda Scotts "I've Told Every Little Star" trällert, bis die zwielichtigen Dunkelmänner ans Set kommen, Kesher sich dem Zwang beugt und das Lied nicht nur über einen Wechsel drohender und herrischer Blicke gelegt wird, sondern auch von einem dumpfen Dröhnen übertönt wird - ein Effekt, den Lynch später in "Inland Empire" mit Little Evas "Locomotion" wiederholen wird.)
Die Klärung von Ritas Identität führt sie zum Haus der Nachbarin Dianes aus dem wahren Leben. Diese verweist auf den Häusertausch, Betty und Rita dringen in das Haus ein, das Diane gehört und finden eine offenbar schon länger im Bett liegende Frauenleiche. Wieder bei Betty daheim, schlafen beide Frauen miteinander. Nach dieser Nacht besuchen sie das "Silencio", von dem Rita im Schlaf spricht. Dort werden Bühnenshows über Schein und Realität aufgeführt, die Frauen ergehen sich in Tränen, aus der handtasche holt Rita einen blauen Würfel hervor. Wieder daheim will sie den Würfel gerade öffnen - mit einem blauen Schlüssel, den Rita in ihrer Handtasche mit sich trug (es ist die, in welcher Diane das Geld für den Killer aufbewahrt hat) - als Rita plötzlich verschwunden ist. Betty öffnet den Würfel, die Kamera fährt hinein in das schwarze Innere, Schwarzbilder und eingestreute Traumbilder wechseln sich ab, dann jedoch ist der Zeitpunkt des Erwachens erreicht.

Die Figurenkonstellation der Realität werden im Traum ganz neu zusammengewürfelt: Kesher wählt statt Brooker Camilla aus und ist somit in Teilen am echten Brooker angelehnt. Diane als Betty und Camilla als Rita übernehmen die Rolle der zwei Cops, die ja bereits vor dem Traum einmal bei der Nachbarin nach Diane gesucht haben, wie es im Traum nun Betty und Rita tun. Den Namen Diane Selwyn, den Rita für ihren möglicherweise richtigen Namen hält, trägt hier eine fremde Leiche (die ist allerdings eine Vorausahnung des eigenen Suizids, den Diane als Träumerin verarbeitet... der Selbstmordgedanke ist ganz offenbar kein spontaner). Rita sieht zwar aus wie Camilla, trägt aber auch Züge von Diane, indem sie mitunter deren Erlebnisse durchmacht, etwa die Autofahrt. Im Traum nimmt sie somit stellenweise Dianes Rolle ein - so zuckt sie auch zusammen, als Betty von ihrer Heimat erzählt, die auch die Heimat der träumenden Diane ist - und das Machtverhältnis hat sich völlig zugunsten Dianes bzw. Bettys verändert. Diane sieht im Traum zwar aus wie Diane und hat auch eine ähnliche Vergangenheit, steht hier jedoch noch nicht vor einem enttäuschten Lebenstraum und ist wegen des geborgten Namens in gewisser Weise eine andere. Camillas Flirt auf der Party heißt im Traum selbst Camilla - die Motivation dahinter ist klar: Während Diane in der Realität ihre Filmrolle an Camilla, Camilla an Kesher verliert und sogar an einen lesbischen Flirt, ist es im Traum so, dass es genau dieser Flirt, Camilla Rhodes, ist, der eine andere Schauspielerin um ihre Rolle bringt, und dass Kesher als ewiger Loser Betty begehrt und ihr nicht ihre Freundin ausspannt. Im Traum ist sich Diane als Betty sowohl der Freundschaft Ritas sicher, als auch der Würdigung durch Regisseur Brooker. Und natürlich ist auch Diane hier nicht die Auftraggeberin des (hier misslungenen) Mordanschlages, sondern die Kellnerin des Cafes scheint darin verwickelt zu sein.
Dianes Traum ist also voller Projektionen, die die Eigenschaften von ihr und anderen auf andere Figuren übertragen und umgekehrt. Es ändert sich also genau genommen nicht bloß die Figurenkonstellation, sondern auch die Figuren selbst verschwimmen im Traum mit anderen Figuren aus der Realität - alles zu dem Zweck, sich im Traum noch das Luftschloss zu erhalten, welches tatsächlich längst zerstört ist. Für diese Überschreitung von Persönlichkeitsgrenzen bemüht Lynch sogar ein Bildzitat herbei: als Betty und Rita nach ihrer Liebesnacht im Bett liegen, verdeckt das Profil der einen die Frontalansicht der anderen. Das ist reinster Bergman und gerade "Persona" (1966) und "Tystnaden" (1963) arbeiten mit solch einem Bildaufbau. "Tystnaden", ebenfalls die Geschichte einer unerwiderten lesbischen Liebe, führt als Verweis wohl weitestgehend ins Leere, "Persona" jedoch verweist als Zitat ganz deutlich auf die verschwimmenden Personengrenzen, geht es doch in "Persona" gerade um die symbiotische Angleichung zweier Frauen. Wie bei Bergman, werden sich auch bei Lynch Rita und Betty optisch immer ähnlicher und betrachten diesen Prozess gemeinsam im Spiegel.)

In dieses Spiel mit neu erträumten Identitäten und gänzlich anderen Schicksalen bringt Lynch aber auch eine Art Metaebene ein: Der unheimliche Mann hinter der Mauer des Cafes, der am Ende in Dianes Wahn erscheint, spielt schon in ihrem Traum eine Rolle. Dort nämlich sitzt nicht sie mit dem Auftragskiller im Cafe, sondern der Mann, der ihnen zugeschaut hat. Dieser erzählt einem Partner von einem Traum, den er zweimal hatte, und dieser Traum wiederholt sich, als er das Cafe verlässt und auf den unheimlichen Mann stößt und tot zusammenbricht. Sein Partner eilt ihm zwar zur Hilfe, hat selbst offenbar niemanden gesehen. In dieser Szene erweist sich bereits innerhalb des Traums der unheimliche Mann als eine von der geträumten Figur im Wachzustand erlebten Einbildung einer zuvor von ihm geträumten Gestalt, die als unwirkliches Element dennoch todbringend wirkt.
Schon lange bevor dem Zuschauer der Hauptteil des Films als Traum entlarvt wird und lange bevor Diane, gerade erwacht, im Wahn vor sie heimsuchenden Traumgestalten
in den Suizid flüchtet, verweist Lynch darauf die Wirkmächtigkeit von Träumen. Kein Zufall also, dass er Träumen und Rückblenden soviel Zeit widmet und die Jetztzeit in einer Handvoll Einstellungen findet: für Lynch ist der Traum ebenso eine ernstzunehmende Wirklichkeit wie der Wachzustand, sogar eine viel interessantere und aufschlussreichere. Im Prinzip steht Lynch damit in der Tradition von "Finnegans Wake", ist wohl (wenn man von "L'Année dernière à Marienbad" (1961) absieht, der ähnlich vorgeht, sich über beständige, explizite Selbstreflexion deutlich von Lynch und Joyce unterscheidet) die erste gelungene filmische Adaption dieses Erzählprinzips: bei minimalsten Darstellungen einer Objektivität einem subjektiv gefilterten Hauptteil möglicht viel an Deutbarkeiten abzugewinnen.

Dass Dianes Wunschtraum schon recht früh nach und nach von der Realität eingeholt wird, ist offensichtlich. Die Realität ist nicht nur Stoff des Traums, der von Diane träumend umgewandelt wird, sondern erweist sich als hartnäckiger, kaum zu verdauender Brocken, der ihren Traum zum Alptraum werden lässt. So schleicht sich das gewonnene Casting durch Camilla auch hier ein, zwar unter vorteilhafteren Umständen (es liegt nicht an Bettys schwächeren Fähigkeiten), aber dennoch ernüchternd genug, um Betty zur Flucht zu bewegen. Immer stärker drängt sich jedoch alles Negative der Realität in den Traum hinein: die freundliche Vermieterin Coco - eigentlich Keshers herablasende Mutter - nimmt unwohlwollende Züge an, als sie Rita in Bettys Wohnung bemerkt. Spätestens als Dianes unwirsche Nachbarin im Traum auftaucht, als wohl einzige Person völlig ungebrochen der Realität entsprechend, ist die Realität ungefiltert in den Traum eingedrungen. Nicht zufällig folgt auf diese Szene auch der Besuch im "Silencio", wo Betty den blauen Würfel findet, ein Portal ins Erwachen. Hier stellt sich der Traum implizit bereits als Traum vor, eine Erkenntnis, auf die das Erwachen folgen muss.

Bis dahin jedoch kann sich Lynch ordentlich austoben: am laufenden Band bringt er seine "Lynchismen", wie Seeßlen sie nennt. Neben der bereits erwähnten Cowboy-Szene, die unheimlich ist, obwohl sie eigentlich komisch sein müsste, und dem Casting zu "I've Told Every Little Star", das unmerklich von verrauschten Tönen überlagert wird, wäre da sein gewohnt abwegiger Humor: Keshers Ertappen der Ehefrau beim Seitensprung, ein gründlich missratener Mordversuch des Auftragskillers, der mit drei Leichen, einem kaputten Staubsauger und einer Alarmanlage endet, die Kellnerin des Cafes, die im Traum übertrieben als zwielichtiges "Flittchen" präsentiert wird, nicht zuletzt indem ihr Lynch murmelartige Brustwarzen verpasst, die sich agressiv durch ihr Oberteil abzeichnen, oder auch bloß Keshers erste Begegnung mit den Dunkelmännern des Filmgeschäfts (Espresso-Szene, Auftritt des Twin Peaks Liliputaners Michael J. Anderson, die Zerlegung des Wagens durch Keshers Golfschläger) - Lynch fabuliert hier ausgelassen und liefert seine übliche Mixtur aus absichtlich peinlich anmutenden Szenen und düsteren Szenen ab. Ein dichtes Stimmungsmeer, in dem der Zuschauer ertrinken darf, wenn er an einer Auflösung kein Interesse zeigt.

"Mulholland Drive" wirkt allerdings über weite Strecken hinweg arg fragmentarisch. Besonders die frühe Cafe-Szene mit dem Auftritt des unheimlichen Mannes, wird erst nach über 1,5 Stunden wieder aufgegriffen - und auch nur in einer einzigen, kurzen Einstellung. Als kommentierende Metaebene funktioniert sie ganz gut, und mehr als genug Zuschauer gewinnen ihr auch stimmungsmäßig viel ab (wobei wohl kaum eine Lynch-Szene so zwiespältig aufgenommen wird wie diese), dramaturgisch führt sowas jedoch über längere Zeit zu einem gewissen Leerlauf. Denn die Dramaturgie entsteht hier erst im Nachhinein bzw. wird sie dann erst erkennbar. Sie wird erst bei der kenntnis des Ganzen wirksam, was ein erstes Betrachten für viele Zuschauer zur Geduldsprobe werden lässt - sonderlich erfolgreich war der Film dementsprechend nicht. Doch neben dem Bestreben Lynchs, sich auf eine ganz eigene Traumlogik einzulassen, in der Dramaturgie ohnehin fehl am Platze wäre (Lynch müsste sich sogar eher vorwerfen lassen, dass "Mulholland Drive" für einen Traumfilm über weite Strecken zu konkret und narrativ ist), spielt hier sicherlich auch die Produktionsgeschichte des Films hinein. Lynch plante das Werk als Fernsehserie und lieferte zunächst einen 90minütigen Piloten ab; zur Serie kam es nicht und Lynch drehte später 50 weitere Minuten ab, um daraus einen Spielfilm zu machen.

Betrachtet man "Inland Empire", so scheint "Mulholland Drive" ein neuer Einschnitt in Lynchs Schaffen zu sein. Wie dieser ist auch "Inland Empire" erst nachträglich zum Kinofilm zusammengebastelt worden. Wie dieser führt er seinen Zuschauer mit reichlich unkonventionellen Abfolgen (Resultat vor der Ursache, Zukünftiges vor Vergangenem und die Gegenwart abwechselnd davor, dazwischen oder dahinter...) in die Irre, stärker noch als "Mulholland Drive" gesellt er neben erträumte Charakter- bzw. Körperwechsel den Wechsel zwischen Schauspielern und Rollen... (beides sind auch Filme über dunkle Seiten der Traumindustire Hollywood, die in der Tradition von Wilders "Sunset Boulevard" (1950) stehen, den Lnych hier auch zitiert) Ob beide Filme den Beginn einer Schaffensphase darstellen, in der Lynchs Filme nicht nur das Rätsel "Was könnte gemeint sein" aufgeben, sondern darüber hinaus die Frage aufwerfen, in welcher Reihenfolge man (über) den Film eigentlich nachdenken muss, wird sich zeigen.

Insgesamt ist Lynchs Film ein faszinierendes Gemisch aus diversen Stimmungen, mitunter ganz bildgewaltig (wenn auch nicht so pompös wie noch "Lost Highway"), und darüber hinaus ein herausforderndes Kreuzworträtsel, dass nach mehrmaligem Betrachten schlüssiger wird und den Film einheitlicher werden lässt. Dass jedoch dieses genialistische Verstecken einer Handlung, die sich der Zuschauer zusammensetzen kann, um das erhebende Gefühl eines mehr oder weniger gut bestandenen Intelligenztests zu haben, sehr kalkuliert wirkt, ist nicht zu leugnen... Auf Dauer drohen Lynch hier sicherlich auch erhebliche Abnutzungserscheinungen...

8/10

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