STAAT UND FAMILIE
Warum ein Film, der im Original Taken heißt, den schönen deutschen Titel 96 Hours bekommen muss, ist zunächst die spannendste Frage, die man sich nach diesem Lone-Gunman-Kracher stellen kann. Der Regisseur Pierre Morel setzt hier nämlich hauptsächlich auf das, was er als Kameramann bei Transporter, Unleashed oder War an Actioninszenierung lernen konnte - und lässt darüber leider die anderen Aspekte, die einen Film bereichern können, zu sehr außer Acht. Aber man kann auch auf wichtigere Fragen kommen, wenn man sich ein paar Gedanken zu diesem Film macht.
96 Hours erzählt von einem Vater und seinem Befreiungsfeldzug für die zwecks Menschenhandels und Prostitution entführte Tochter. Dass die Entführer diesmal leider an den Falschen geraten sind, weil Bryan Mills (Liam Neeson) auf seine hochspezialisierte Ausbildung und langjährige Arbeit als Sicherheits-Agent der amerikanischen Regierung zurückgreifen kann, ist das Grundkonstrukt der Geschichte und nicht der letzte Zufall, der das Drehbuch voranbringt. Morel und Produzent Besson versuchen, das Glatteis ihrer Geschichte, das aus dem Spannungsfeld Selbstjustiz-Rechtsprechung bzw. illegal-legal besteht, zu meiden, indem im ersten Akt der emotionale Aspekt der späteren Handlung betont, sogar überbetont wird: Bryan Mills hat ein unglückliches Verhältnis zu seiner für ihr Alter sehr unreifen, 17jährigen Tochter, nachdem die Beziehung mit deren Mutter in die Brüche ging. Er bemüht sich zwar, einen Kontakt aufzubauen, und erntet dabei die Sympathien des Zuschauers, aber seine Ex und deren Neuer, der materiell einiges mehr zu bieten hat als Mills, lassen ihn kaum zum Zuge kommen. So wird die an sich behäbige Exposition für den Zuschauer zum Aufreger, denn man teilt die Hilflosigkeit der Hauptfigur gegenüber den vorschnellen Verständnis- und Rücksichtslosigkeiten der Anderen. Dies wird innerhalb des Films die emotionale Grundlage für den seinerseits rücksichtslosen Gewaltfeldzug zur Befreiung der Tochter sein und zugleich außerhalb des Films eine mögliche Rückzugsposition gegen eine Kritik bezüglich Selbstjustiz und Foltermethoden. Es ist möglich für den Film zu argumentieren, dass er ja keine irgendwie legal abgesicherten Gewaltmaßnahmen propagiert, sondern von einem emotional persönlich zutiefst betroffenen Mann erzählt, der seine Tochter retten will. Dass dies verständlich ist, sollte ebenso klar sein, wie die Unmöglichkeit, Handlungen, die aus solcher persönlichen Betroffenheit hervorgehen, zur gesellschaftlichen Norm und gesetzlichen Regel zu machen. Verständlich ist Mills' Verhalten zweifellos - moralisch aber ist es unverzeihlich.
Grundsätzlich braucht dies auch nicht im Widerspruch zu einem Film zu stehen, der 90 Minuten spannende Action bieten will Und das ist der erste erfreuliche Aspekt an 96 Hours: die Spannung steigt stetig und die Action ist so überzeugend inszeniert wie der verblüffende Ideenreichtum der Hauptfigur bei ihrem hindernisreichen Weg in die oberen Etagen des organisierten Verbrechens. Dies verbunden mit dem zweiten erfreulichen Aspekt, der Besetzung mit Liam Neeson, ergibt - trotz reichlicher Vorhersehbarkeit im Verlauf des Plots - ausreichend Dramatik und 60 von 90 Minuten Spannung. Die Kompromisslosigkeit und Geradlinigkeit, mit der sich Mills instinktsicher durch eine feindliche Parallelwelt der Illegalität und Korruption bohrt, steht Neeson ins Gesicht geschrieben. Dass er nicht so weit käme, wie er kommt, wenn ihm nicht einige glückliche Zufälle ermöglichten, weiterzugleiten, muss man wohl hinnehmen, wo doch schon die Grundkonstruktion nicht auf Wahrscheinlichkeit setzt. Da darf es auch nicht wundern, dass die Bösen mal wieder zu blöde sind, ihren Gegner auszuschalten, wenn sie ihn bereits wehrlos in Handschellen vor sich haben. So etwas zählt eher schon zur Genrekonvention.
Allerdings, und das ist der unerfreuliche Aspekt an 96 Hours, ist es wohl zuviel verlangt, dass ein Film, der ohne Zweifel auf spannende Unterhaltung ohne Hintersinn abzielt, auch ohne stereotype Feindbilder auskommen kann. Es sind mal wieder diese Bösen mit Bart oder Glatze, die sich an den braven westlich zivilisierten Mädchen vergreifen und die man deshalb auch mal perfide foltern darf, bis sie sagen, was man wissen will, um danach trotzdem dem eigenen Rachedurst per Exitus Linderung zu verschaffen. Es gibt seit einiger Zeit dieses Faible des amerikanischen Films für die Darstellung von irgendwie legitimierter Gewalt und Folter an denen, die es angeblich nicht besser verdient haben. Diese Darstellung in der Fiktion geht einher mit den Maßnahmen zur Absicherung des Vaterlandes gegen die terroristische Bedrohung durch den fanatischen Islamismus, die in ihrem Streben nach Sicherheit im Widerspruch zum Ideal der Freiheit stehen und im Einzelfall ge- oder erklärt werden müssen. Und wie wir vom ehemaligen Verteidigungsminister Struck wissen, wird auch Deutschland am Hindukusch verteidigt. Was es nun bedeutet, dass das Erzählmuster "Folter kann legitim sein" nicht nur Hochkonjunktur hat, sondern z.B. mit 96 Hours als französischer Produktion auch international Fuß fasst (immerhin macht auch der Plot des Films die Bewegung von Amerika nach Europa!), soll hier nicht diskutiert werden. Aber die Wahrnehmung solcher Zusammenhänge sollte nicht ganz leichtfertig mit der Argumentation pro pures Action-Kino weggewischt werden. Irgendeiner muss im Action-Kino seine malträtierte Fresse hinhalten. Das ist zwingend und ohne das keine Action. Doch wer das ist und in welchen Zusammenhang man die Action stellt, ist keineswegs zwingend, sondern der Entscheidungsfreiheit von Autoren, Produzenten, Regisseuren überlassen.
Kehren wir noch einmal zurück an den Anfang des Films: da ist also dieser Bryan Mills, der seiner Tochter so viel weniger zu bieten hat, als ihr neuer "Vater" - er schenkt ihr eine Karaokeanlage zum Geburtstag, der Neue ein Pferd (übrigens eine ebenso überladene wie wirkungsvolle Szene). Behält man diese immerhin betonte Ebene der Erzählung im Auge, so bemerkt man auch, wohin der Film am Ende geführt hat: zu einer Aufwertung und Bestätigung der kompromisslos durchgreifenden Haltung, die Mills an den Tag legt und die weit mehr wert ist, als das Materielle, mit dem er nicht dienen kann. Er kann die Tochter zurück in Sicherheit bringen, behält am Ende Recht, wo er anfangs noch als paranoid belächelt wurde, und was ihn dazu befähigt sind zwei Dinge: professionelle Gewaltbereitschaft und Liebe. Das eine lernte er als Patriot vom Staat, für den er genau diese Sicherheitstätigkeit auch ausübte, das andere lernte er von seiner Tochter, der er eben diese Liebe wiedergeben will. Patriot und Vater, Staat und Familie sind das Hintergrundbild, auf dem sich die zugegeben spannende Action von 96 Hours abspielt. Ob man so weit über diesen Film denken will oder gar muss, ist eine Grundsatzfrage, die sich auf viele Filme beziehen lässt. Nichtsdestotrotz: sie darf gestellt werden.