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Ein Jahr nach den Unruhen im Mai 1968 kam der neue Truffaut ins Kino, nach dem Roman WALTZ INTO DARKNESS von Cornell Woolrich. Revolutionär geht es allerdings nur in der dem Film vorangestellten Widmung an Truffaut Vorbild, Jean Renoir, zu, bei dem ein Ausschnitt aus LA MARSEILLAISE (1938) gezeigt wird: die Wiedervereinigung zwischen Regierungstruppen und Revolutionsgarde. Danach ist der Film reif für die Insel, und zwar die danach benannte Insel La Réunion, die früher Île Bourbon, hieß, richtig: von da kommt die Vanille. Die prinzipiell spannende Handlung ähnelt Hitchcock, vor allem Marnie und Vertigo, was kein Zufall ist, galt Truffaut doch in der Redaktion der Cahiers du Cinéma zu den glühenden Verehrern und hat ihm mit seinem Interviewband MR. HITCHCOCK, WIE HABEN SIE DAS GEMACHT? ein Standardwerk verfasst. Dem Zuschauer wird hier vieles geboten: Tote Vögel, Koffer mit und ohne Geld, eine sprichwörtliche Leiche im Keller, Cabrios, Schnee und eine nackte Hauptdarstellerin. Dazu noch ein Schuss Lokalkolorit à la Jean Rouch und ein Belmondo, der wie aus einem seiner Actionfilme importiert wirkt, etwa, wenn er ohne Stuntman flink eine Häuserfassade hochklettert, sich den Rest des Films aber sichtlich bremst, um als ruhiger Saubermann in Form eines typisch-romantischen Truffaut-alter-Egos durchzugehen. Und da kommen wir auch schon zum großen Problem, dass der Film hat: Belmondo und Deneuve sind für sich genommen großartige Schauspieler*innen, hier wirken sie aber völlig fehlbesetzt. Zwischen beiden herrscht so viel knisternde Chemie wie zwischen Depp und Jolie in THE TOURIST, nämlich keine. Die spielen zwar, aber sie transportieren nichts, wodurch die ohnehin rasante Handlung umso unglaubwürdiger wirkt und dadurch das dramatische Ende völlig in den Sand, pardon, Schnee gesetzt wird. Hinzu kommt, dass Antoine Duhamel hier eine der schlimmsten und anstrengendsten Filmmusiken seiner Karriere abgeliefert hat. Man hätte sich hier eher etwas vom Stile Herrmanns gewünscht, der mit Truffaut bei dem schönen DIE BRAUT TRUG SCHWARZ zusammengearbeitet hatte. Nach dem Film vertraute Truffaut nur noch Georges Delerue die Vertonung seiner Filme an. Warum ich mir trotzdem die neue Blu-Ray des Films geholt habe? Zum einen, weil er zum ersten Mal in Cinemascope erlebbar ist, nachdem jahrzehntelang nur eine alte MGM-DVD in beschnittenem 1,66:1 vorlag. Dadurch sieht man den Film erstmals in seiner visuellen Pracht, wie er gedacht war. Zum anderen ist die Insel La Réunion ist der heimliche Star über weite Strecken des Films. Die Fahrt durch die Palmenallée, die Plantagen, die Kirche, der große Baum, unter dem die beiden sich verliebt unterhalten, die an Vertigo erinnernde Fahrt durch die Hauptstadt, die großen Schiffe am Hafen, so wie die Exotik, die hier mitschwingt. Interessant fand ich, dass der Himmel immer ziemlich verhangen war, was gut zur Stimmung des Films passte. Leider war das in der Mitte des Films schon wieder vorbei, als es in ein Frankreich geht, das aus einem Chabrolfilm stammen könnte. Als Fazit könnte man an Stroheim angelehnt sagen: A film you love to hate. Unvergesslich ist er auf jeden Fall. 6/10

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