Inspector Bun (Lau Ching Wan) hat seine eigenen Mittel und Wege, prekäre Mordfälle zu lösen. Denn Bun ist kein Freund von konventioneller Ermittlungsarbeit – im Gegenteil, seine außergewöhnliche Erfolgsquote verdankt er seiner spirituellen Gabe, die verschiedenen Identitäten eines Menschen vor seinem geistigen Auge sehen zu können. Zudem gelingt es ihm, heikle Fälle zu lösen, indem er die Situation nachstellt und so die Ereignisse rekonstruiert, sich in die Köpfe von Opfer und Täter hineinversetzt. Gleich zu Beginn bekommt der Zuschauer ein Beispiel für diese unkonventionelle Vorgehensweise: Bun löst den brutalen Mord an einem Studenten, indem er sich selbst in einen Koffer packt und von einem Kollegen die Treppen des Polizeipräsidiums hinabbefördern lässt. Als er sich jedoch bei der Verabschiedung seines Chiefs vor den Augen aller Kollegen ein Ohr abtrennt, um dieses seinem Boss als Geschenk zu überreichen, wird er wegen Unzurechnungsfähigkeit aus dem Dienst entlassen.
Ein paar Jahre später verschwindet Detective Wong bei der Beschattung eines Diebes in einem naheliegenden Wald. Sein Partner, Chi-wai, überlebt, kann jedoch nichts zur Lösung des Rätsels beitragen. Als wäre dies nicht schon schlimm genug, werden in der Folge eine Reihe von Raubüberfällen und Morden verübt, die mit Wongs Waffe begangen wurden. Der ermittelnde Inspector Ho ist ratlos und wendet sich an seinen ehemaligen Vorgesetzten, Ex-Inspector Bun. Dieser soll mit seinem außergewöhnlichen Talent dazu beitragen, das rätselhafte Verschwinden Wongs und die Serie von Raubüberfällen aufzuklären.
Hat der Dieb, den die beiden Beamten damals verfolgt haben, Wong getötet, seine Waffe an sich genommen und verübt jetzt die Überfälle damit? Oder hat gar Wongs Partner, Chi-wai, etwas mit der Sache zu tun? Oder liegen die Dinge ganz anders, als es zuerst den Anschein gehabt haben mochte?
Inspector Ho und der exzentrische Bun beginnen zu ermitteln, doch Bun scheint dem Wahnsinn in der Zwischenzeit ein ganzes Stück nähergekommen zu sein...
Soviel mal zum Grundgerüst der Handlung, mit dem aber längst noch nicht alles erzählt ist. Viel zu komplex und vielschichtig ist der Film von Johnnie To und Wai Ka-Fai, der bei den Kritikern zurecht mit Lob überschüttet wurde. Und diese Komplexität und Vielschichtigkeit entfaltet sich keineswegs in einem Epos, sondern in einem Spielfilm, der gerade mal 90 Minuten geht.
Hauptverantwortlich für das Gelingen und den Erfolg von [i]Mad Detective[/i] sind – neben der ausgetüftelten, intelligenten Story, den wie gewohnt grandios durchkomponierten Bildern und der Zaubermusik aus dem Hause Milkyway – die Darsteller, allen voran der Protagonist und "Mad Detective" Lau Ching Wan. Er wirkt gereift (nicht gealtert!) im Vergleich zu alten Paraderollen wie in [i]Running out of Time[/i] oder [i]Black Mask[/i]. Lange Haare, abgeklärter Blick, eine Präsenz wie sie nur noch selten zu spüren ist im Hongkong-Kino heutzutage.
Und als Inspector Bun spielt er die Rolle des Durchgeknallten mehr als glaubwürdig. Vor den Augen seines Vorgesetzten schneidet er sich mit einem Messer ein Ohr ab, ohne mit der Wimper zu zucken. Er legt sich in ein Grab und lässt sich zuschaufeln, um das Geschehen im Wald, beim Verschwinden Wongs, zu rekonstruieren. Er bestellt das selbe Essen wie ein Verdächtiger, gleich mehrmals hintereinander, bis er sich erbricht. Wie ein Irrwisch rennt er in eine der Kneipen, die überfallen wurden, und bedroht die Angestellten mit einer imaginären Pistole, in der Hoffnung, sich in den Kopf des Täters hineinversetzen zu können. Dasselbe soll er später in einem Polizeirevier wiederholen. Was allerdings besonders auffällig ist, und Inspector Ho bereits zu Beginn verwirrt, ist, dass Bun sich stets mit seiner Frau unterhält, die offenbar nur er sehen kann. So kommt es zu einer kuriosen Szene, als Ho mit seiner Freudin essen geht und Bun sich mit seiner Frau anschließt. Dabei ist die To diese Darstellung raffiniert angegangen, indem er die gleiche Szene aus mehreren Perspektiven zeigt: Bun, der seine Frau sieht. Der Zuschauer, der wie Bun seine Frau sieht. Inspector Ho (und alle anderen), die die Frau nicht sehen. Und natürlich dieselbe Szene aus Sicht des Zuschauers, der aus Ho's Perspektive ebenfalls niemanden sehen kann. Dass sich dieser konkrete Sachverhalt im Verlauf des Films als ein ganz anderer herausstellen soll, ist ein cleverer Twist, für die Haupthandlung an sich jedoch nicht so wichtig.
Wichtig ist hingegen der zu Beginn bereits erwähnte Umstand, dass Bun in jedem Menschen ihre verschiedenen Identitäten sehen kann. In der ofdb-Inhaltsangabe wird auch von "Geistern" und "Dämonen" gesprochen, so kann man das im Falle eines Verdächtigen durchaus auch nennen. Und genau diese Situation sorgt in dem ansonsten eher als spannend und ernst zu charakterisierenden Films für das ein oder andere Schmunzeln. So vereinigt der von Bun ins Auge gefasste Verdächtige, Cop Chi-wai, allein sieben Identitäten, darunter auch der großartige Lam Suet, einer von To's Regulars. Man kann sich das so vorstellen, dass Ho und jeder andere immer nur den einen "tatsächlichen" Menschen sieht, Bun aber dessen innewohnenden Identitäten sieht, im Falle von Chi-wai eben gleich sieben unterschiedliche Personen, darunter ein Weichei, ein Draufgänger, eine entschlossene Frau usw. – alles "Teilidentitäten", die den Menschen als Ganzen ausmachen, und die sich in seinem Inneren bekämpfen...oder ergänzen. In Inspector Ho sieht Bun beispielsweise einen kleinen verängstigten Jungen. Und den sieht er dann hin und wieder eben wirklich, genau wie der Zuschauer. Eine Szene, die mich zum Lachen brachte, war, als Inspector Ho mit Chi-wai gemeinsam in einem Auto wegfährt. Der Zuschauer sieht zu Beginn nur die beiden. Doch dann kommt Bun auf den Plan und sieht das Auto vollgestopft mit acht Menschen, darunter die erwähnten Identitäten Chi-wai's und der kleine Junge, den er in Inspector Ho sieht. Eine lustige Truppe, und obwohl die Szene nicht humorvoll angedacht ist, ringt sie dem geneigten Zuschauer automatisch ein Schmunzeln ab. Ebenfalls witzig ist die Szene, als Bun Chi-wai ins Bad folgt und dort auf einmal sieben verschiedene Menschen nebeneinander aufgereiht dastehen und ihn fragend anstarren. Überhaupt sieht der Zuschauer häufig deutlich mehr bzw. andere Personen, die eigentlich da sind, was zu Beginn durchaus für Verwirrung sorgen kann, woran man sich aber bald gewöhnt.
Was die Auflösung des Films angeht, da möchte ich nicht näher darauf eingehen. Der Zuschauer wird durch einige Plottwists mehrfach in die Irre geführt, hat aber durchaus einen festeren Verdacht. Sagen möchte ich nur so viel, dass die verschwundene Waffe eine große Rolle spielt, und dass dieser Aspekt im Zusammenhang mit jemand anders nochmal aufgegriffen wird (eine Hommage an [i]PTU[/i]?). Zudem treten weitere Charaktere im Verlauf der Handlung auf, die eine Rolle für die Gesamtkonstellation spielen. Und die Auflösung ist nicht nur äußerst komplex und sehr intelligent, sondern durchaus auch ziemlich böse.
Bis dahin bieten uns Johnnie To und Wai Ka-Fai jede Menge surreale und skurrile Szenen, die dennoch nie überzogen oder unglaubwürdig wirken. Action und Blut finden sich eher wenig, auch wenn es zwei, drei härtere Szenen gibt. Vielmehr ist der Film einerseits konventioneller Cop-Thriller, andererseits surreal anmutendes Drama. Die emotionale Seite wird auf jeden Fall angesprochen, wie man es von To gewohnt ist, denn Bun ist eine selten tragische Hauptfigur, die viel durchgemacht hat im Leben. Und Bun selbst erklärt Ho im Hinblick auf seine Herangehensweise bei Ermittlungen. "You've got it all wrong. You must apply emotions, not logic." Besser kann man die Atmosphäre und Botschaft dieses skurrilen Meisterwerks wohl nicht beschreiben.
Neben den tragischen Augenblicken, die einen wirklich zu Tränen rühren vermögen (Stichwort: Bun's Verhältnis zu seiner Frau), gibt es auch wieder einen wirklichen Sahnemoment: als Lau Ching Wan sich an einem sonnigen Tag in der Stadt in den Radius eines Sprinkler stellt, gen Himmel blickt und sagt: "This is a sign from God." Und sein Partner Ho (übrigens kongenial verkörpert von Andy On) schmunzelt, und ihm unter die "Dusche" folgt. Die Kamera verharrt auf den beiden erwachsenen Männern, die in ihren teuren Anzügen am hellichten Tag begossen werden und sich dabei weiter über den Fall unterhalten. Einfach schön.
Diese Beschreibung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sch bei [i]Mad Detective[/i] in erster Linie um einen düsteren Thriller mit einem großen dramatischen Element und einem – [i]relativ[/i] – bösen Ausgang handelt. Für mich der beste To'sche Film seit vielen Jahren und eine unbedingt Empfehlung für alle Hongkong-Fans. Neben [i]The Beast Stalker[/i] und [i]Ip Man[/i] der beste HK-Film, den ich seit langem gesehen habe.
[i]Mad Detective[/i] lief auf dem Fantasy Filmfest 2007, wo ich ihn leider verpasst habe, zu jenem Zeitpunkt gab es ihn aber bereits auf HK-DVD von Mei Ah, sodass ich ihn relativ zeitnah zum ersten Mal genießen konnte. Nachdem ich ihn nun zum zweiten Mal gesehen habe, habe ich mich zu diesem Review entschlossen, in der Hoffnung andere auf diese Perle aufmerksam zu machen – verdient hätte sie es allemal.
Anschauen!