Pier Paolo Pasolini galt in den 70er Jahren als das Enfant Terrible des italienischen Kinos. Häufig hatte er Probleme mit der Zensur. Für „Canterbury Tales" nach den gleichnamigen Erzählungen von Geoffrey Chaucer wurde er kurz nach der Veröffentlichung des Films 1972 aufgrund blasphemischer Szenen der Verleumdung der italienischen Staatsreligion angeklagt, jedoch musste diese Beschuldigung später vermutlich unter dem Duktus der Kunstfreiheit fallen gelassen werden. Er drehte mit diesem Film den zweiten Teil seiner Trilogie des Lebens, die er mit „Decameron" begonnen und „Erotische Geschichten aus 1001 Nacht" beendet hatte.
Das verbindende Element dieser drei Werke sind die Erotik und unterschwellig-groteske Komik (die hin und wieder in Vulgarismen ausartet), mit der Pasolini Geschichten untergegangener feudaler Gesellschaften erzählt. Mit Desinteresse an Polemisierungen und Moralisierungen und somit der Vermeidung jeglicher Positionierung, zelebriert er im Besonderen in „Canterbury Tales" die Zurschaustellung der Travestie von Religion: Sittliche Maßregeln werden nicht ernst genommen, Moralverstoße gepredigt, Unzucht getrieben. Dies ist ebenso wie der episodische Charakter seines Films, der mit Ausnahme von der Darstellung Chaucers (durch Pasolini selbst) keine verbindenden Elemente im Plot aufweist, der literarischen Vorlage aus dem 14. Jahrhundert geschuldet.
In acht Episoden geht es um Lust, Ehebruch, Begierde und Müßiggang - jegliche Elemente von ausschweifender Erotik, die im Anbetracht der einflussreichen Rolle der Kirche im Mittelalter und der Ständegesellschaft nicht möglich schienen. Dabei fällt auf, dass sich Pasolini viele künstlerische Freiheiten bei der Adaption von Chaucers Werk leistet, jedoch die Dialoge in antiquierter Sprache präsentiert, was die Darsteller, die aufgrund ihres immer nur eher kurzen Auftritts austauschbar bleiben, zuweilen etwas theatralisch wirken lässt. Identifikationsfiguren sucht man leider vergebens, weswegen „Canterbury Tales" nie über den Status eines sinnlich-lustvollen, aber auch distanzierten Kaleidoskops in kräftigen Farben ohne wirklich ersichtliche Botschaft hinauskommt.
Das Anstößigste an diesem Film dürften wohl nicht die vielen entblößten Leiber sein, sondern die letzten drei Minuten, welche Strenggläubige durchaus verstören könnten: Man sieht Pasolinis Vision der Hölle mit einem Teufel, der Mönche rektal ausscheidet. Heutzutage wirkt dies jedoch aufgrund der schlecht gealterten Effekte und einer säkularisierten Gesellschaft eher belustigend. „Die 120 Tage von Sodom" - welchen Pasolini auf Grundlage des gleichnamigen Romans vom Marquis De Sade 1975 drehte - erhielt sich dagegen seine verstörend-schockierende Wirkung bis heute und gilt im Nachhinein als sein Meisterwerk.
Fazit: Lustvoller mittelalterlicher Reigen, der für mich zusammenhanglos heitere Episoden präsentiert. Keineswegs sind „Pasolinis tolldreiste Geschichten" (was für ein idiotischer deutscher Titel) harmlos und einschläfernd, wohl aber durch viele Dialoge etwas tempoarm geraten. Warum „Canterbury Tales" seinerzeit den Goldenen Bären auf der Berlinale 1972 errang, hat sich mir nicht erschlossen. Nicht Pasolinis bestes Werk, aber handwerklich sehr solide gemacht.