Wenn eine Frau wie Laura (Belén Rueda) nach 30 Jahren zu dem Haus zurückkehrt, in dem sie ihre Kindheit verbrachte, dann bedeutet das auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen frühen Erfahrungen. Nur kurz zu Beginn wirft Regisseur Juan Antonio Bayona einen Blick zurück und zeigt eine sommerliche Szenerie mit spielenden Kindern und dem mütterlich wirkenden Waisenhaus-Personal. Es ist der Moment, in dem Laura von ihren zukünftigen Eltern abgeholt werden soll, und kein Schatten scheint auf dem Geschehen zu liegen - ausser das Laura weggeht...
Ihre Rückkehr fällt ähnlich selbstverständlich aus, denn der Film vermeidet jegliche bedeutungsschweren Anspielungen. Weder wird über die Geschehnisse nach Lauras Weggang noch über das schon seit vielen Jahren leerstehende Gebäude referiert, doch man muss annehmen, dass den Protagonisten diese Ereignisse zumindest grob bewusst sind - und das sie unterschwellig ein Grund dafür waren, dass Laura ein Pflegeheim für behinderte Kinder an dieser Stelle eröffnen will.
Dem Zuseher vermittelt sich das nur sehr langsam, denn "Das Waisenhaus" erklärt nichts, sondern schildert in ruhigen Bildern Lauras Ankunft, gemeinsam mit ihrem Mann Carlos (Fernando Cayo) und ihrem kleinen Sohn Simón (Roger Príncep). Einzig an ihrer Sorgfalt und der täglichen Tablette ist zu erkennen, das Simón eine Krankheit hat, deren Ausmasse man sich angesichts des lebendigen Jungen, der über eine blühende Fantasie verfügt, nur schwer vorstellen kann.
Trotz dieser alltäglichen Abläufe, entsteht von Beginn an eine unheilvolle, gespenstische Atmosphäre, die auch aus der Diskrepanz zwischen Lauras aktionistischem Verhalten und der Frage, warum sie ausgerechnet an diesen Ort zurückgegangen ist, entsteht. Denn Laura beschäftigt sich keineswegs mit ihrer Vergangenheit, sondern organisiert professionell ein Sommerfest, um für zukünftige Zöglinge bei deren Eltern zu werben. Offensichtlich hat Simón keine Freunde, denn er hat sich - von den Eltern gezwungenermassen akzeptiert - zwei Phantasiebegleiter zugelegt. Betrachtet man den einsam gelegenen Ort, der keine Chancen für Kinderfreundschaften bietet, so ist anzunehmen, dass sich die Eltern in den Pflegekindern die geeigneten Freunde erhoffen.
Doch diese Gedanken werden im Film keineswegs geäussert, sondern drängen sich zunehmend angesichts der sich zuspitzenden Ereignisse auf. Parallel zur Vernachlässigung von Simón - auf Grund der vielen Arbeit seiner Eltern - entwickeln sich die jeweiligen Empfindungen auseinander. Simón scheint immer mehr in die Vergangenheit dieses Ortes einzutauchen, nimmt Kontakt zu den früher hier lebenden Kindern auf und verschmelzt regelrecht mit dem Gebäude, während seine Mutter selbst die Geschehnisse um die merkwürdige alte Frau, die um das Haus streift, und die später vor ihren Augen stirbt, nicht in einen Zusammenhang mit ihrer eigenen Geschichte bringt - bis zu dem Moment, in dem Simón ausgerechnet während des Sommerfestes, als Laura ganz als Gastgeberin gefordert wird, spurlos verschwindet - als wäre er ein Teil des Gebäudes geworden. Erst ab diesem Zeitpunkt fängt Laura an, sich wirklich mit diesem Ort ihrer Kindheit zu beschäftigen und nimmt damit immer mehr Simóns Position ein, denn sie ist davon überzeugt, dass er auch Monate nach seinem Verschwinden, noch lebt.
"Das Waisenhaus" hält diese zwei Ebenen bis zu seinem konsequenten Schluss bei. Immer wieder durchbricht die Realität das gespenstisch wirkende Geschehen. Damit setzt sich "Das Waisenhaus" sowohl von klassischen Horrorfilmen, als auch von Filmen wie "Poltergeist" ab, die hier bewusst zitiert werden. Doch diese Zitate (grossartig Geraldine Chaplin als Medium) sind weder Selbstzweck, noch verfügen sie über die üblichen Konsequenzen. Im Gegenteil - während die Geisteraustreibung mit dem Dreigestirn in "Poltergeist" zur tatsächlichen Erscheinung des Geistes führte, werden hier die drei Geisteraustreiber von der rationalen Denkweise der anwesenden Polizeipsychologin und Lauras Mann als Scharlatane vertrieben.
Die Verzahnung zwischen den zunehmenden Empfindungen Lauras für ihre Vergangenheit an diesem Ort und den rational nachvollziehbaren Konsequenzen, wird immer enger und erzeugt eine extreme Spannung, die aus der Unsicherheit entsteht, nicht mehr klar die Grenzen erkennen zu können, bis der Film beide Ebenen zum Schluss vereint. Dem "Waisenhaus" gelingt nicht nur eine überzeugend unheilvolle Atmosphäre, die jedem Gruselfilm zur Ehre gereicht, sondern auch eine schlüssige Geschichte, die psychologisch und inhaltlich stimmig ist und nicht auf hergeholte Storywendungen angewiesen ist.
Das Regisseur Bayona dabei auf viele bekannte Versatzstücke des Horror- und Gruselgenres setzt, trägt durchaus zur Unterhaltung bei und verleiht dem Film eine gewisse Ironie im sonst sehr ernsthaften Geschehen, aber es sollte nicht den Blick darauf verdecken, dass ihm hier ein sehr eigenständiger und sich letztlich den üblichen Genreeinordnungen widersetzender Film gelungen ist (8,5/10).