Review

Filme über Filme hat Godard im Grunde genommen schon immer gedreht: In "Á bout de souffle" (1960) zitiert Belmondo in seinen Gesten Bogart, in "Le Mépris" (1963) spielt Fritz Lang sich selbst, eine der Hauptfiguren erlebt in "Les Carabiniers" (1963) seinen allerersten Kinobesuch (und sieht angsterfüllt Lumieres "L'Arrivée d'un train à la Ciotat" (1895), "Bande à Part" (1964) verspricht die eigene Fortsetzung in Farbe und Breitbildformat, "Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution" (1965) ironisiert die Lemmy Caution Figur, "Masculin feminin" (1966) präsentiert Leaud bei einem enttäuschenden Kinobesuch, in "Pierrot le fou" (1965) erklärt Samuel Fuller Belmondo, was Film eigentlich ist, "Made in USA" (1966) ist Godard zufolge eine Mischung aus Disney und Bogart und "La chinoise" (1967) markiert schließlich einen Wendepunkt: Leaud spricht direkt in die Kamera (Schuss), der Zuschauer sieht sich gleich darauf mit der Kameramann und der Filmcrew konfrontiert (Gegenschnitt).
Hier wurde Godard nicht nur politischer (und tendenziell auch immer antiamerikanischer), sondern auch immer offensiver selbstreflexiv. Mit der Folge, dass er in "2 ou 3 choses que je sais d'elle" (1967) seine eigenen Darstellungen hinterfragt und ständig zwischen Figuren und Darstellern unterscheidet, dass die Figuren in "Weekend" (1968) das Drehbuch beschimpfen und dass Godard in "1+1" (1968) quasi sich selbst spielt und dabei das Verhältnis von künstlerischer und politischer Revolte vorsichtig abtastet.
Diese Fragestellung begleitet ihn und die gegründete Group Dziga Vertov die frühen 70er hindurch: am konventionellsten sicherlich noch in "Tout va bien" (1972), wo eine Journalistin und ein Filmemacher und Werbefilmer ihr Handeln ab 68 reflektieren, am extremsten sicherlich in "Letter to Jane" (1972), wo Godard anhand eines Fotos von Jane Fonda in Vietnam (das die komplette Bildebene von Anfang bis Ende einnimmt) die Frage nach der Auswirkung künstlerischer Arbeit (im weitesten Sinne) auf politische Ereignisse behandelt.
In der zweiten Hälfte dieser Dekade experimentiert er mit der Videotechnik, ab 1979 kehrt er mit "Sauve qui peut (la vie)" auf die große Leinwand zurück um seine narrativen Inhalte hier und in den folgenden Filmen immer wieder mit Fragen nach der "richtigen" Darstellung zu verbinden.

In den 70ern keimte in ihm auch die Idee einer filmischen Filmgeschichte auf, die tatsächliche Umsetzung fand dann aber erst unter Canal+, ARTE und Gaumont zwischen 1988 und 1998 statt. Und wie der Titel dieses work in progress andeutet, geht es Godard nicht darum, eine Filmgeschichte zu behaupten oder zu referieren - die Annahme einer Filmgeschichte hat Godard im hegelschen Sinne aufgehoben: abgeschafft und beibehalten.
Filmgeschichte ist bei ihm nur als Anhäufung von Geschichten möglich, die er nicht mal chronologisch gliedert oder gar in kausale Zusammenhänge setzt. Filmgeschichte(n) denkt er zudem ausschließlich vor dem Hintergrund allgemeiner kultureller Entwicklung und letztlich geht es ihm auch nicht darum, filmischen Neueinsteigern, begeisterten Laien einen Rundum-Einblick zu liefern - diese Zuschauer dürften in Godards "Histoire(s) du cinéma" vollends den Boden unter den Füßen verlieren, was auch denen droht, die über eine gesunde Halbbildung verfügen. - nicht, weil Godard ein dem Zuschauer völlig überlegenes Genie ist, sondern weil es kaum möglich ist, eine nicht kenntlich gemachte Zitatansammlung kurzer Filmausschnitte, Soundtracks, Star-Fotos und zudem noch Werken der Kunstgeschichte und Musikeinlagen von Beethoven über Leonard Cohen bis Punk bis ins letzte Detail einzuordnen, während es ein leichtes ist, dutzende, ja hunderte von Werken, die es einem angetan haben, zu einer monströsen Collage zu verbinden. Insofern macht es Godard dem Zuschauer nicht leicht, kostet dabei seine vermeintliche Überlegenheit auch sichtlich aus und gefällt sich offenbar in seiner Rolle als rauchender, grübelnder, Schreibmaschine tippender Erzähler, wobei diese Selbstinszenierung dadurch sympathisch wird, dass er sich wie so oft auch hier und da bewusst zum Narren macht.
Die Bandbreite der besprochenen bzw. abgebildeten Filme ist riesig: Von Lumiere und Melies an geht es bishin zu Godards eigenem Spätwerk, der Neoralismus ist Gegenstand wie die Nouvelle Vague oder das klassische US-Kino der 10er, 20er, 30er, 40er, 50er und 60er Jahre. "Ilsa, Haremkeeper of the Oil Sheiks" (1976) steht neben dem Pornofilm, das strukturalistische Kino eines Hollis Frampton steht neben revolutionärem Kino eines Glauber Rocha und Aufnahmen aus den KZs von Hollywood-Legende George Stevens tauchen ebenso auf wie seine Spielfilme.

Es ist kein Zufall, dass sich generell freundlich gesinnte Kritiker in verlegenen wie lobenden Worten über die bisweilen hochkomplexe Montage (bis zu vier Bild- und Tonebenen überlappen sich wechselseitig, Subliminalbilder wechseln einander ab usw.) ergehen und ein Eingehen auf Inhalte möglichst vermeiden oder mit allgemein gehaltenen Worten oder bloßen Vergleichen stiefmütterlich abhandeln.
Eine letztlich vollkommene Auslegung oder Deutung wird es wohl auch nicht geben, dafür ist das Werk zu überfrachtet und Rosenbaums Vergleich mit "Finnegan's Wake" ist insofern ebenso treffend wie ehrlich. Und aus dieser Überfülle resultiert ja auch ein gewisser Reiz. Eine grobe Ordnung hat aber Godard selbst gnädigerweise vorgegeben: 8 Filme bilden vier zweigeteilte Oberkapitel: 1a) Every Story, 1b) History Alone, 2a) Only the Cinema, 2b) Fatal Beauty, 3a) Currency of the Absolute, 3b) A New Wave, 4a) Control of the Universe, 4b) The Signs Among Us - um mal die englischsprachigen Titel der Filme zu verwenden.
Diese Titel geben thematische Schwerpunkte bzw. in den Episoden entfaltete Thesen vor und verleihen dem Zuschauer nach den ersten Minuten damit eine bestimmte Perspektive auf das Bilder- und Tongewimmel, die dann doch hier und da einen roten Faden zutage liefert.



"Histoire(s) du cinéma: Toutes les histoires" ist der erste dieser Filme und noch einer der zugänglicheren neben "Histoire(s) du cinéma: Fatale beauté". Gewidmet ist er Mary Meerson (Henri Langlois Ehefrau und insgeheime Mitarbeiterin) und Monica Tegelaar (die der imdb zufolge zweimal als Produzentin in Erscheinung getreten ist).
"La règle du jeu" (1939) murmelt Godard vor seiner Schreibmaschine; sicherlich kein zufällig ausgewählter Titel, sondern bereits die Ankündigung eines Vorhabens: dem Spiel(film) mit (Spiel)Regeln auf den Grund gehen. "Viskningar och rop" (1972) folgt - "Schreie und Flüstern", eine erste Annäherung an zwei Themengebiete der "histoire(s)", nämlich an Krieg und Gewalt, und Liebe und Zärtlichkeit, die sich mit "Broken Blossoms" (1919) gleich darauf wiederholen wird.
Es zeigt sich, dass Godard keinen direkten Weg wählt, er geht über Assoziationen und Andeutungen.
Kaum ist dieser Prolog, unterlegt mit alten und neuen Klassikern von "Faust" (1926) über "Menschen am Sonntag" (1929) bis "The Fury" (1978), beendet, ertönt die Aufforderung an das Zurückerinnern aus Resnais "L'année dernière à Marienbad" (1961). Auch hier erweist sich der gewählte Film als penibel eingeplantes Leitmotiv: Immer wieder wird etwa Marcel Prousts gigantischer Roman der Erinnerung ins Spiel gebracht und sei es über Madeleines Haarlocke aus Hitchcocks "Vertigo" (man sollte sich vergegenwärtigen, dass Richard E. Goodkins Verbindung beider Werke in seinem 1987 erschienenem "Film and fiction: Hitchcock's Vertigo and Proust's 'Vertigo'" höchst aktuell war) und kaum dass die Marienbad-Zitate verstummen, murmelt Godard "Matter and Memory" (00:08:41).
Die Erinnerung spielt freilich in jedem geschichtlichen Verlauf eine zentrale Rolle, in der Kunstgeschichte und womöglich besonders der Filmgeschichte etwas stärker, weil hier Zitate und anderweitige Bezüge ganz direkt an andere Filme denken lassen, ohne dass der Zuschauer dies aktiv geplant hatte.

HOLLYWOOD wird schließlich groß verkündet, gleich darauf "Irving Thalberg", den Godard offenbar mehr schätzt als seinen anspruchsloseren Kollegen Louis B. Mayer, auch wenn Thalberg für die Zerstörung von Strohheims "Greed" (1924) mittlerweile in nicht unbedingt positiver Erinnerung geblieben ist. Godard präsentiert Titel und Ausschnitte seiner Filme, die nochmal ein Bild von Thalberg ins Gedächtnis rufen, ohne dass Godard eine vollständige Filmographie oder bloß eine Biographie präsentiert.
Daran Anknüpfend folgt ein Hollywood-Durchgang, der vor allem die 30er Jahre abhandelt und es auf die mehrfach auftauchende Formel A GIRL AND A GUN bringt. Ein erster direkter Rückgriff auf das im Prolog angekündigte Programm.
Dann gibt es einen Einschnitt: "Newness of history. History of news." (00:14:12) heißt es, und Godard wendet sich ab vom überwiegend fiktivem Erzählkino Hollywoods um bei Eisenstein und Vertov zu landen. (Eisenstein mit seiner Montagetheorie ist schließlich der absolute Gegensatz zum klassischen Hollywoodkino, das Griffith mit einem unsichtbaren Schnitt - dem er nur selten und mit Ausnahme von "Intolerance" (1917) meist zur Spannungserzeugung die Parallelmontage entgegenhielt - nachhaltig prägte.) KINO PRAVDA lautet die Formel, mit der er sich Eisenstein und Dziga Vertov nähert und hält letztlich den Gegensatz fest: "A dream factory. Communism wore itself out trying to dream up such factories." (00:16:47)
Einen toten Lenin schneidet Godard dann gegen ein, die Flagge der Vereinigten Staaten schwenkendes Pin up Girl und kehrt mit Howard Hughes zum US-Film zurück, der hier bei Godard eine zentrale Stellung einnehmen wird, der Godard recht ambivalten gegenübersteht. Dem Sowjet-Film, der unter Stalin stark an Qualität einbüßte, widmet sich Godard nicht mehr.
Dafür widmet er sich zwischendurch immer wieder dem französischen, dänischen, schwedischen Kino, in dem sich erste Autorenfilmer etablieren.
Hieraus wird er eine zweite Gegenüberstellung erstellen: US-Mainstreamkino gegen europäische Filmkultur, dem er nicht zuletzt durch die Einbindung europäischer Kunstgeschichte (Blake, Ingres, Renoir, van Gogh, Goya, Picasso sind durch Gemäldeausschnitte immer wieder mal präsent) den künstlerisch wertvolleren Gehalt zuspricht - obwohl das US-Kino einst die fruchtbarste Quelle der Nouvelle Vague Regisseure war.
Zwar verneint Godard hier nirgends die Qualitäten von Laurel & Hardy, Chaplin, Keaton, John Ford, wird aber dennoch im System Hollywood eine negative Kraft sehen.

"Avec s" betont Godard dabei nochmal die Pluralität seiner Filmgeschichte(n) und landet gleich darauf bei "avec ss" (00:32:02) - der SS. Der Lili Marleen Hit ziert dann die Tonspur, das Bild zeigt Archivmaterial der Zeit, sowie Ausschnitte aus unterschiedlichen Filmen wie Langs "Die Nibelungen" (1923) und "Das Testament des Dr. Mabuse" (1931), Brass' "Salon Kitty" (1976), Fassbinders "Lili Marleen" (1981) und Lanzmanns "Shoa" (1974-1985), wobei der Mix aus zeitlich stark getrennten Spiel- und Dokumentarfilmen den sowieso schon starken Hang zur gefährlichen Überstilisierung bei Brass und Fassbinder umso deutlicher hervorhebt. Godard spricht vom "Cinema of the Devil" und merkt lakonisch an: "from Siegfried and M to the Dictator and Lubitsch, films were made." (00:33:01)
Dem somit auf recht vielschichtige Weise vermittelten Eindruck des Nationalsozialismus und der Rolle des Spielfilms in ihm (Die Nibelungen avancierten zu der Zeit zum deutschen Vorzeigefilm, das Mabuse-Sequel wurde aus naheliegenden Gründen verboten), stellt Godard das US-Kino entgegen, wobei er die ab Kriegseintritt entstehenden Propagandafilme außen vor lässt. Dem echten Blut und den echten Tränen gegenüber nehmen für Godard die Regisseure eine hilflose Position ein. "Isn't Life Wonderful" verkündet ein Zwischentitel (00:41:13) - spielt damit auf den 1924 gedrehten Griffith-Film an, in dem es ums (Über)Leben in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg geht - und fasst die Unangemessenheit einer Unterhaltungsindustrie (oder ihres größten Teils; Chaplin wird - wie ab der 37. Minute der zweiten Episode angedeutet wird - freilich ausgenommen) zusammen, die es verpasst, ein gravierendes Problem zu thematisieren. Realität und Fiktion stellt er ihr als größtenteils unvereinbar gegeneinander, ebenso wie er es auch mit Gut und Böse als Prinzip klassischen Erzählkinos tut.
Dass etwa der 1943 ermordete, im Widerstand tätige Valentin Feldman, Verfasser des Aufsatzes "L'Esthetique francaise contemporaine" heute aus der Erinnerung der meisten verschwunden ist, während man sich an einen "anderen Gefangen" wie Goya (der für seine Desastres de la Guerra vor die Inquisition kam) erinnere, hält Godard fest und will daran aufzeigen, dass viel stärker als eine politische Aktivität das Erzeugen von Bildern in der Nachwelt haften bleibt und dass die mediale Abbildung eines Ereignisses diesem in gewisser Weise überlegen ist.
"And if George Stevens hadn't used the first 16mm colour film in Auschwitz and Ravensbrück, Elizabeth Taylor would never have found a Place in the Sun." (00:47:19) behauptet Godard daran anknüpfend und mixt in Doppelbelichtungen und Parallelmontage blutige Leichname und eine strahlend schöne Taylor im Badeanzug in einer der subversivsten und emotional ergreifendsten Szenen seiner "histoire(s)", um zu zeigen, in welchen Dienst die Filmbilder zu stellen sind und wo die Prioritäten liegen - die Aufnahmen mit der Taylor dürften die bekannteren sein.

Hier beendet Godard seinen ersten Teil quasi nach einer Gegenüberstellung von US-Unterhaltungskino, dem Revolutionsfilm des Sowjetkinos, nach einer Gegenüberstellung des US-Films und des europäischen Kinos und letztlich einer Beschreibung der Filmkultur während des Nationalsozialismus.
Ein Fazit lautet dann - bevor der Film mit "Germania anno zero" (1948) und Schilderungen des Todes in den Gaskammern endet - noch: "Cinema is an industry. And if World War I allowed American cinema to ruin French cinema, with the advent of television, World War II allowed it to finance, that is, to ruin, European Cinema." (00:48:00)
Hier zeigt sich dann deutlich ein Schwachpunkt, der weder dem US-Film, noch dem europäischen Kino gerecht wird. Dass der US-Mainstreamfilm eine mächtige Position eingenommen und auf andere Filmschaffende abgefärbt hat, ist nicht zu bestreiten, diesem Kino jedoch eine Schuld zuzusprechen entgleitet jedoch in billige, nicht haltbare Polemik und bloß ein weiteres Zeichen von Godards Antiamerikanismus, der im Spätwerk hin und wieder (vor allem in "Éloge de l'amour" (2001)) deutlich zum Vorschein kommt. Schließlich gab es in den USA auch damals schon Avantgarde- und später Underground- und noch später Independentkino, während der Erfolg kurzweiligen Unterhaltungskinos in anderen Ländern sicher nicht ausschließlich (oder gar: überhaupt nicht) den Amerikanern angelastet werden.

Abgesehen von diesem Umstand ist "Histoire(s) du cinéma: Toutes les histoires" ein gekonnt montierter Essay, der bisweilen treffende Bilder für diskussionswerte Thesen enthält, der latente Antiamerikanismus, der am Ende schließlich völlig ausbricht, hinterlässt einen wenig überzeugenden Beigeschmack, und ist allenfalls - was freilich keine Kunst ist - als Dokument von Godards Denkweise von Interesse.
7,5/10



"Histoire(s) du cinéma: Une histoire seule" - gewidmet ist das Werk John Cassavetes und Glauber Rocha - entsteht im Jahr darauf und bildet eine Art Gegenpol zum ersten (und mit Abstand längsten) Essayfilm, stellt er doch "Every Story" ein "History Alone" entgegen. Davon abgesehen, dass er (was ein wenig an Jorge Luis Borges erinnert, den Godard in seinen "histoire(s)" mehrfach zitieren wird) all die Geschichten, die er zuvor präsentiert hat, hier präsentiert und später noch präsentieren wird, als eine Geschichte definiert und damit die eine Geschichte als einzige Geschichte überhaupt aus der Summe aller Ereignisse bestehen lässt - es wird mehrfach, recht penetrant darauf verwiesen - ändert sich am Konzept aber nicht viel.
Ihm fehlt ein wenig die im Vorgänger noch vergleichsweise stringente Struktur. So kommt er etwa von Sjöströms "The Wind" (1928) assoziativ zu "Gone with the Wind" (1939), reiht Musicalnummern an Todesszenen, ehe er nach 10 Minuten verkündet, das Kino "boils down to entertainment" (00:10:11). Hier knüpft er an die von ihm am Ende des Vorgängers behaupteten Verfallserscheinungen an. Er reduziert die gängigsten Themen des Kinos auf Sex und Tod (bezeichnenderweise läuft nebenbei "Kiss me deadly" (1955) von Robert Aldrich ab), gesteht dem Film aber dennoch eine tiefe Faszination zu, die sich seiner Meinung nach daraus ergibt, dass Film weder mit den Worten "Kunst" noch "Technik" ausreichend erklärt werden kann. Film sei mehr, Film sei Mysterium. Und zugleich "an industry of escapism." (00:15:33)
Dann springt Godard zurück zum Anfang: "Their Name could have been Lampshade, but it was Lumière" (00:14:07) kalauert er, und widmet sich der technischen Seite der Kinovorführung.
Beim Schnitt angelangt hält Godard fest, dass ein Bild dasselbe Bild bleibt, auch wenn ein anderes hinzukommt - aber spätestens wenn Vertovs "Tschelowjek s kinoapparatom" (1929) eingeblendet wird, zeigt er an einem Musterbeispiel, dass im neuen Kontext der Blickwinkel ein anderer ist. Letztlich ist es bloß der Gegensatz von empirischer Realität und sinnlicher Wahrnehmung, den Godard hier - übertragen auf geistige Reflektion - vorführt und auch daran das geheimnisvolle des Films zu vermuten scheint. Über das Mysterium verliert er nicht viele Worte, dafür umso mehr Bilder und Töne, hier und da versehen mit dem Hinweis, dass man Film zwar wahrnehmen, aber nicht zur Gänze sprachlich fassen kann (...hier ähnelt Godard in seinen Aussagen eher Tarkowski als sich selbst, aber gerade bei dessen Filmen ist diese Aussage recht hilfreich). Film sei wie das Christentum nicht aus einer historischen Wirklichkeit entsprungen, es sei ebenfalls nur eine Frage des Glaubens an fiktive Geschichten, eben ein Eskapismus, womit er ebenfalls wieder an den ersten Teil anknüpft.

Nun widmet er sich den Themengebieten Sex und Tod, die ihm die zentralen zu sein scheinen: dass dem so ist, will er anhand zahlreicher Ausschnitte von "Sommaren med Monika" (1953) über "Baby Doll" (1956) bishin zu "Lolita" (1962) - um dabei über Prousts "À l'ombre des jeunes filles en fleurs" wieder auf die Erinnerung zu kommen - und von "Der müde Tod" (1920) und "Captain Blood" (1935) über "O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro" (1969) bishin zu "Salò" (1975) bekräftigen.
Im Grunde genommen habe sich das Kino von Anbeginn an kaum verändert - was Godard in einem Interview so erklärt: "Das Verhältnis zwischen dem Positiven und dem Negativen existiert im Kino in seiner einfachsten materiellen Form: Das Kino setzt genau das ins Bild. Doch mit der Digitaltechnik verschwindet das Negativ. Es gibt kein Negativ und kein Positiv mehr, es gibt eine Art platter Linearität, das widersprüchliche Verhältnis zwischen Tag und Nacht existiert nicht mehr - es brauchte ein Jahrhundert, um zu verschwinden. [] Deswegen habe ich auch irgendwann einmal gesagt, das Kino ist eine Idee des 19. Jahrhunderts, die ein Jahrhundert gebraucht hat, um sich zu verwirklichen und zu verschwinden." (http://www.monde-diplomatique.de/pm/2007/08/10.mondeText.artikel,a0054.idx,19)
Mit diesem Hinweis, der die Unterschiede aller Filme ausblendet und über ihre Gemeinsamkeiten ein Gemeinsames entwirft, welches auch eine einzelne Geschichte rechtfertigt, schließt Godard diesen Teil ab, der der Annahme von "Every Story" die Annahme von "History Alone" entgegensetzt um beides als "histoire(s)", eben als "(Hi)story" in Einklang zu bringen. Letztlich im Prinzip keine tiefe Einsicht, wurden solche Fragen nach Einheit und Vielheit und Vielheit in der Einheit schon bei Platon mehr oder weniger erfolgreich behandelt...

Diese zweite Episode lebt damit insgesamt eher durch die vielfältige Musikuntermalung und sorgfältig ausgewählte Bilder, gibt inhaltlich aber wenig her; allenfalls die Verweigerung, Film mit den Begriffen von Kunst und Technik ausreichend zu definieren, enthält hier noch Potential, dass zwischendurch immer wieder mal gestriffen wird, wenn Bild- und Ton-, sowie s/w-Kontraste, das Glauben an die Fiktion oder die damit manipulierte Erinnerung angerissen werden. Als Filmgedicht von hohem audiovisuellen Reiz, als ergiebiger Essay eher eine Enttäuschung. 7/10



"Histoire(s) du cinéma: Seul le cinéma" widmet Godard Armand J. Cauliez (Autor eines 1962 in der Edition Seghers erschienenem Buches über Jacques Tati) und Santiago Alvarez.
Während Godard mit quietschendem Edding noch den Titel der dritten Episode schreibt, werden verschiedene Standbilder per Doppelbelichtung nacheinander über die Szene gelegt: eine Frau hält sich die Augen zu, eine andere schaut durch eine Lupe, ein Dritter zielt mit Sonnenbrille durch das Visier seines Gewehres auf ein unbekanntes Ziel, ein vierter trägt in einer riesigen Detailaufnahme der Augen eine Brille, eine junge Frau blickt ins Mikroskop, die Darstellung eines Zyklops folgt, ein Mann schaut durch seine Kamera, eine Frau durch ihr Opernglas, ein riesiges Auges direkt in die Kamera, auf den Zuschauer. Kurz: alle Bilder handeln vom Blicken, das auf diverse Weisen manipuliert wird.
Es folgt eine Großaufnahmes des Oscars, danach präsentiert Godard einem Oscar Wilde, wieder allein über die Ähnlichkeit seines Names assoziiert. Solche Assoziationen und Manipulationen lässt Godard hier auf den Zuschauer los, immer mit Prousts Schilderung von Madeleines und Tee, die dem Protagonisten zwangshaft seine Kindheit ins Gedächtnis rufen, im Hinterkopf: "Temps perdu" verkünden Zwischentitel an allen Stellen.
Damit sagt er freilich nichts, was er in den ersten zwei Episoden nicht auch schon angedeutet hätte, aber er betont dieses Element hier etwas stärker.

Weniger verrätselt geht es dann mit einer Interviewsequenz weiter - eine Neuerung in den "histoire(s)", die bisher fast nur aus Einstellungen Godards und Aneinanderreihungen wie Überlappungen diverser Werke bestanden hat. Das Interview mit Serge Daney ist 1997 schon um einiges älter, ist Daney doch 1992 verstorben. Godard nutzt dieses Material allerdings als hilfreiche Unterstützung bei seinem Neueinstieg in das projekt nach fast 10 Jahren: "Als die Filmfirma Gaumont die "Histoire(s)" wieder aufgenommen hat, hatte es zuvor eine Pause von einem Dreivierteljahr gegeben. Canal+ und andere wollten ihn damals nicht produzieren. Dann hat Gaumont das Projekt wieder aufgegriffen, und ich fragte mich, wie ich den Faden der Geschichte wieder aufnehmen sollte. Daney hatte etwas für die Libération geschrieben. Es gab eine Aufnahme des Gesprächs, das wir geführt hatten. Und als ich wieder anfangen musste, habe ich beschlossen, von diesen Aufnahmen mit Daney auszugehen..." (http://www.monde-diplomatique.de/pm/2007/08/10.mondeText.artikel,a0054.idx,19)
Godard überlegt die Aufzeichnung mit dem Hinweis, dass seine "histoire(s)" nun "Histories - in the plural - of cinema and television" (00:02:57) sind, dann beginnt das eigentliche Gespräch, dass Daney mit der Nouvelle Vague beginnt, die er in den 50er Jahren (erste Filmversuche und Kritikertätigkeiten) und 60er Jahren ansiedelt. Damit schreibt er Godard auch eine glückliche Position zu, die ihn befähigt, ein Projekt wie "histoire(s)" überhaupt erst zu beginnen - in den 50ern war das Kino in etwa halb so alt wie zum Zeitpunkt dieses Interviews, als junger Mann konnte sich Godard somit viel eher die Filmgeschichte aneignen und sie von da an "live" mitverfolgen, während es fast ein weiteres halbes Jahrhundert später beinahe schon eine Überforderung darstellt.
Damit spricht er ein Problem an, dass auch heute zwar nur bedingt, aber immerhin schon sichtbar wird: die Kanonisierung der Filmgeschichte. So haben sich einige Namen wie Melies, Feuillade, Griffith, Murnau, Lang, Lubitsch, Dieterle, Hawks, Rosselini, Vigo, Hitchcock bis heute gehalten, andere wie Jean Negulesco, George Sidney oder Harry Piel (um mal einige der Bekanntesten der Unbekannteren zu nennen) werden über kurz oder lang aus dem Blickfeld verschwinden. Und im Verlauf der Zeit wird immer weiter gesiebt werden, vieles wird unrettbar verschwinden. Daney hält zumindest fest: "There were suddenly too many films to see or to catch up on in this heritage-turned-monster that was the history of cinema. Before the 60s, you had only four or five main countries producing films but when cinema became a world-wirde industry, it's impossible for a young person today - short of spending 10 to 15 years watching films - to catch up on everything they haven't seen whilst also establishing an axis on which to situate their own history..." (00:06:28) und nimmt mit Godard die bevorstehende Kanonisierung an, wie sie in der Literaturgeschichte schon (erfolgreich?) läuft.

Hier liefert einem diese "histoire(s)"-Episode gleich zwei Angriffspunkte: vor allem wäre dies Godards völlig verklärte Sicht auf Kunst- und Literaturhistoriker: diese wäre "only Frenchmen. [...] Baudelaire writing on Edgar Allan Poe is like Malraux on Faulkner, like Truffaut on Edgar Ulmer or Hawks. There's something typically French in this. It's an almost exclusively French story." (00:09:58) Das ist eine völlig verblendete Zuspitzung tatsächlicher Gegebenheiten, die sich im Folgenden noch verschlimmern wird.
Der andere Punkt ist die Undurchdringlichkeit seiner "histoire(s)", die sich ohne Quellenangaben bei einer Fülle von nur bruchstückhaft vermittelten Ausschnitten gerade jüngeren Zuschauern kaum erschließen dürfte. Hier spricht Godard das eigene Problem an, ohne es in seiner Gänze zu erfassen.
Zudem ist diese Interviewsequenz vom ästhetischen Standpunkt aus so sehr an Godards minimalistische Kunst der frühen 70er Jahre gehalten, dass die karge, monotone Bildebene nur den wenigsten Zuschauern überhaupt etwas geben dürfte.

THE SIGNS AMONG US lässt Godard im Anschluss verkünden und präsentiert eine vor der Leinwand zusammenbrechende Frau. Die Ohnmacht angesichts der Überfülle an Bildern wandelt sich in ein von Julie Delpy vorgetragendes Poem, unterlegt u. a. mit Szenen aus "Night of the Hunter" (1955), alles vergleichsweise gemächlich montiert. Dann schließt Godard mit den Zwischentiteln "The Lost World" und "Temps Perdu" die Episode ab - eine Kinolandschaft, die sich quantitativ so ausgebreitet hat, dass kein Zuschauer sie mehr gänzlich zu fassen vermag, eine Kinokultur, die vom Fernsehen verdrängt worden ist. EURYDIKE und ORPHEUS blitzt es nochmal kurz auf, und TO LOOK BACK - ein wehmütiger Rückblick auf eine Filmlandschaft, die in Vergessenheit geraten wird.

Abgesehen davon, dass Godard im letzten Teil sehr poesievoll seine verlorene Kinowelt in Bilder und Klänge zu fesseln versteht, hat er mit diesem Neueinstieg den schwächsten Teil der Reihe vorgelegt. Visuell kaum ergiebig, inhaltlich auf ein Minimum reduziert und von unhaltbaren Ein- und Ausfällen unterbrochen, bleibt ein kurzer Essay zurück, der nicht hält, was Godard mit den ersten beiden Teilen versprochen hat.
Die im Gespräch mit Daney anklingende Problematik von Kanonisierung, Auswahl und Verlust bietet potentiell viel diskussionswerten Stoff, wird aber allenfalls angerissen.
6/10



"Histoire(s) du cinéma: Fatale beauté" ist Michele Firk und Nicole Ladmiral gewidmet. Einer militanten Revolutionärin, die sich vielfach mit lateinamerikanischem Kino beschäftigt hat (Hervé Hamon und Patrick Rotman gehen in ihrem Buch "Generation" auf Firk ein, die sich 1968 schließlich in Guatemala den Schädel weggeblasen hat um ihrer Verhaftung zu entgehen; ein französischsprachiges Buch liegt auch von Terk Boris vor: "Michèle Firk est restée au Guatemala. Portrait d'une cinéaste en armes"), und einer Darstellerin aus "Journal d'un curé de campagne" (1951), die in Franjus "Le sang des bêtes" (1949) als Erzählerin in Erscheinung getreten ist.
Um Frauen geht es auch, wie der Titel bereits erahnen lässt, bei dem Godard nach eigener Aussage Ava Gardner in Siodmaks "The Great Sinner" (1949) vor Augen hatte.
Ist Kino nach Godard in erster Linie die darstellung von Liebe und Tod, von Sex und Gewalt, dass beschäftigt er sich hier mit einem dieser zwei zentralen Motive - mit der Frau, die im männlichen Blickwinkel das Objekt der Begierde darstellt - wie etwa bei Bunuel ganz direkt im Titel von "Cet obscur objet du désir" (1977). Dass es gerechtfertigt ist, von einem männlichen Blick zu sprechen (gleichwohl weibliche zuschauer diese Filme sicherlich auch betrachten), legt Godard durch die knappe Formel BOYS FILMING GIRLS nahe, die seine Episode in verschiedenen Variationen durchzieht.
Zunächst beschäftigt er sich mit dem, was Elisabeth Bronfen einmal als Schneewittchen-Effekt bezeichnet hat und was bei E. A. Poe noch der Gipfelpunkt der Poesie sein sollte: mit dem Tod der (jungen, schönen) Frau und im weiteren Sinne einer femme fragile überhaupt. Anna Magnanis Tod in "Roma, citta aperta" (1945) läuft ab, gleich darauf der Tod der Freundin von Kirk Douglas in "The Fury" (1978).
Wenig später widmet er sich auch der femme fatale, in der Kinogeschichte vor allem im film noir andauernd präsent.
Überhaupt klappert Godard hier eine ganze Kulturgeschichte ab, kommt von der Kameliendame bishin zum Pornofilm.

Der Western ist für Godard besonders geeignet um die Idealbilder von Mann und Frau im Kino zu präsentieren: Der Colt in Genitalbereichnähe beim Mann, dessen Körperpartie damit ebenso häufig abgebildet wird, wie seine Stärke sugeriert wird, das Dekolleté bei der Frau, die bei Nahaufnahmen nicht selten erst unterhalb des Ausschnittes aus dem Bild verschwindet.

Bei all den schön leidenden bis sterbenden Frauenfiguren kommt Godard auch auf die Albertine Marcel Prousts zurück, zitiert etwas aus dessen Hauptwerk und fragt anschließend: "And the director? If we had to speak without saying anything, for example: ,I woke u surly.' Cinema must exist for words stuck in the throat and for the truth to be unearthed." (00:10:46)
Das ist der erste direkte Vergleich von Literatur und Film in Godards "histoire(s)", der hier eher die Kunstgeschichte herbeibemüht um Vorbilder des Kinos einzufangen, gleichwohl dieses in seinen Anfangsphase vehement der Literatur nacheifert und dabei verkannte, dass es abbildete und nicht wie die Literatur vergeblich Bildereignisse nachahmte um dennoch Wort zu bleiben.
Diese Macht der Bilder ist hier erneut das Thema und Godard geht einmal mehr so weit zu behaupten, dass Filmemacher und nicht Historiker letztlich Geschichte schreiben... Besonders heutzutage in Zeiten von "Valkyrie" (2008) und "Inglourious Basterds" (2009) eine erschreckende Annahme.
Er betont nochmal seine Definition des Kinos als Mysteriums, erinnert sich an "Bande a parte" zurück, knüpft Filmszene an Filmszene - meist voller aufreizender Frauenfiguren - aneinander und landet bei einem Monolog von Sabine Azéma, die Schönheit als Fluchtpunkt des Menschen ausmacht, der sie als fast göttliches Etwas anstrebt um damit zu erlangen was ihm abgeht, um damit einen Ausgleich herzustellen, der die Mängel der eigenen Existenz verdeckt. Sie kommt Godards These des Kinos als Eskapismus damit sehr nahe, die letztlich auch die idealisierte Abbildung der Frau durch Männer erklären kann und soll. Azéma fasst zusammen: "Beauty, game in itself. Game man plays with his own symbol. His only chance to escape, at least symbolically, his fear of loneliness, repeating again and again the beautiful autosuggestion, the flight into beauty, the game of flight." (00:20:09)

Mit einer Ansammlung entsprechender Frauenfiguren aus Malerei und Film endet die Episode, ganz am Ende steht der vielleicht humorvollste Augenblick in den "histoire(s)": in einer Überbledung überlagern sich ein Kinopublikum der 30er oder 40er Jahre und eine Penetrationsszene aus einem Hardcoreporno, wobei sich Drehbewegungen der Köpfe der Zuschauer und Stoßbewegungen der zwei Akteuere völlig entsprechen. Und während der verschwitzte, bullige Oberkörper des mannes zu sehen ist, stehen zwei empörte ältere Herren auf und verlassen peinlich berührt den Kinosaal - eine gelungene Montage, perfekt ineinandergefügt und sehr erheiternd.

Überhaupt ist es eine sehr erheiternde Episode, die Godard hier vorgelegt hat - nicht nur weil er selbst, sich höchst prätentiös gebend, nackt an seiner Schreibmaschine hockt und grimassierend neue Denkansätze hervorstößt.
Darüber hinaus legt er aber auch ein recht zentrales Thema vor, von dem er nur selten abweicht, und dass er relativ konkret behandelt ohne seine vielschichte Montage derartig einzubüßen wie es in der Episode davor geschehen ist. Im Zeitalter von Gender Studies bildet dieser Essay eine fruchtbare Ausgangsbasis - vorausgesetzt man kann die präsentierten Werke halbwegs zuordnen.
Gute 7/10.



"Histoire(s) du cinéma: La monnaie de l'absolu" ist Gianni Amico, der Godard bei "Le vent d'est" (1970) als Assistent zur Seite stand, und James Agee, dem Drehbuchautor von "The African Queen" (1951), gewidmet.

Anfangs greift Godard nochmal auf den Eurydike-Stoff der vorletzten Episode zurück, diesmal in Form der Geschichte um Lot und die Salzsäule. Aus dem Rückblick, während dem das begehrte Objekt verschwindet - wie es Godard und Daney für die Kinolandschaft annehmen - wird ein Rückblick, bei dem man angesichts des Dargebotenen erstarrt. SIGNS AMONGST US heißt es auch hier wieder und diesmal fallen sie besonders bitter aus: Berge spindeldürrer Leichname in den KZs werden unterlegt mit Schilderungen diverser Kriegshandlungen.
Krieg, Gewalt und Tod bildet diesmal das Themas des Essays, aber nicht - wie im vorherigen Film - in Form eines Überblicks über die Darstellung von Gewalt und Tod, sondern viel eher in einer Reflexion über die fehlende Bereitschaft, sich mit ihr im richtigen Augenblick auseinanderzusetzen.

"We only film the past. That is, what passes." (00:05:42) Das sagt Godard und weist damit unterschwellig darauf hin, dass Filme in der Regel Schrecknisse aufarbeiten, die längst Vergangenheit sind. Mit der Gegenwart, dass wird Godard in dieser Episode behaupten, beschäftigt sich das Kino vergleichsweise selten.
Bitterböse schneidet er dementsprechend Michèle Morgans Zugreise nach Berlin - um dort die erste Zusammenarbeit mit der ufa seit "Le quai des brumes" (1938) zu realisieren, was letztlich von Goebbels verhindert wird - mit der Anreise anderer Stars im Jahre 1942 zusammen mit Zügen, die Richtung Auschwitz fahren. Auch hier zeigt sich nach Godard wieder der Eskapismus des Kinos, der Gegenwart weitestgehend ausweicht. Nach der gleichzeitigen Präsentation von der Taylor und den KZ-Opfern, beides gefilmt von George Stevens, die vielleicht unangenehmste Szenenabfolge der "histoire(s)".

Solcherlei Szenen münden schließlich in Godards problematische Behauptung: "Why is it, that from'40 to '45 there was no resistance cinema? There were resistance films. Left and right, here and there, but the only film, in the true sense, to resist America's occupation of cinema and a uniform way of making films was an italian film." (00:20:59) Mit "Roma, citta aperta" habe Italien zu seiner Freiheit gefunden, "because the film was made by men without uniform. It was the only time. The Russians made martyr films. The Americans made commercials. The English made what they always make: nothing. The Germans had no cinema. And the French made Sylvia And The Ghost. The Poles made two expiatory films, The Passenger and The Last Step and a nostalgic film, Kanal. Then they welcomed Spielberg." (00:21:34)

Abgesehen davon, dass Godard zurecht "Roma citta aperta" als beeindruckende Leistung hervorhebt, verkürzt diese polemische Äußerung die Filmlandschaft derartig, dass sie in Godards Konzept passt und degradiert vor allem das britische Kino in unzulässiger Weise.
Abschließend feiert Godard den Neorealismus, verfällt dabei allerdings in peinliche Rührseligkeit, die bei ihm im Spätwerk ab und an mal aufblitzt; er montiert Szenen aus den Filmen de Sicas, Rosselinis, Viscontis, Fellinis, Pasolinis und Antonionis, wobei nicht alle Filme wirklich unter Neorealismus fallen: "Amarcord" (1974) ist beispielsweise alles mögliche, aber kein Neorealismus. Womöglich wertet er dieser Filmkultur auch bloß als Zeichen der Freiheit, die der Neorealismus nach Godard ja ermöglicht haben soll.

Abgesehen von den erwähnten Vereinfachungen stellt Godard den größten Teil des Kinos überwiegend überzeugend als Realitätsflucht dar, wird zum Ende hin ungewöhnlich sentimental, wobei ihm allerdings in der ersten Hälfte emotional äußerst wirksame Szenen gelingen, die nicht annähernd so dick auftragen. Dem Vorgänger steht dieser Essay letztlich kaum nach. 7/10.



"Histoire(s) du cinéma: Une vague nouvelle" - gewidmet Frederic C. Froeschel (ein Paris Filmclubs-Vorsitzender) and Naum Kleiman (Russischer Filmkritiker) - bildet mit seinem Vorgänger wieder einen zusammenhängenderen Block, als es die Episoden 3 und 4 getan haben. War in der vorherigen Episode der Neorealismus Gegenstand, ist es hier die Nouvelle Vague. Insofern bilden diese Episoden noch am ehesten eine Filmgeschichte im üblichen Sinne.

Godard, einer der wichtigsten, womöglich der wichtigste Vertreter der Nouvelle Vague, hält sich als Betroffener diesmal etwas zurück, gleichwohl er ja um Selbstinszenierung nie verlegen ist. Er tritt hier seltener als Erzähler auf, ist kaum zu sehen, kaum zu hören, nimmt dafür allerdings einen sehr persönlichen Blickwinkel ein, stärker noch als in den vorherigen Essays. MONTAG MY LOVELY TROUBLE verkündet ein Zwischentitel, ehe Godard nouvelle vague Klassiker und Vorbilder rasant montiert; auf die jump cuts kommt er in diesem Essay kaum zurück.
Recht persönlich wirkt das Werk, wenn er Francois Truffaut doch recht zärtlich in ein positives Licht rückt, nachdem sich beide ab Mai '68 zerstritten und bis zu Truffauts Tod trotz Bemühungen Godards nie wieder vertragen haben. An Lotte Eisner und Henri Langlois erinnert er sich ebenfalls zurück, ehe er melancholisch schließt: "Our only mistake was to think it was a beginning, that Stroheim hadn't been murdered, that Vigo hadn't been sullied, that the 400 blows continued" (00:21:53)
Von einer gescheiterten Bewegung ist eigentlich aber nicht zu sprechen, objektiv gesehen war die nouvelle vague ein Beginn - wenn auch keiner, der aus dem Nichts erschafft hat - welcher sich nicht zuletzt im New Hollywood bemerkbar macht; aber als Betroffener sieht Godard das etwas pessimistischer, zumal New Hollywood wohl auch nicht das war, was er sich damals erhofft hatte - er mochte ja selbst "Bonnie and Clyde" (1967) (den er fast - in zwei Wochen im Winter in Texas - selbst gedreht hätte) nicht ansatzweise.

Von all den Essays der Reihe ist dieser der persönlichste, entsprechend poesievoll arrangiert ihn Godard und entsprechend reduziert sind hier seine Thesen. Für Cineasten ist es jedoch eine interessante Collage aus den Vorbildern und Hauptwerken der nouvelle vague, bishin zu ihrer allmählichen "Auflösung".
7/10



"Histoire(s) du cinéma: Le contrôle de l'univers" - gewidmet Michel Delahaye und Jean Domarchi - beschäftigt sich nochmal (wie auch der folgende Teil) mit Motivation, Bedeutung und Wirkung des Kinos, die ja auch zuvor immer vor konkreten Schwerpunkten angesprochen wurde, hier aber recht allgemein gehalten das Leitmotiv durch den Bildersturm liefert.

In Anlehnung an Denis de Rougemonts Forderung mit den Händen zu denken (",Where I create is where I am true': Rilke. Some think, others act. But man's true condition is to think with his hands." (00:07:33)) eine aufgestellte Kluft zwischen geistiger Tätigkeit und vermeintlicher Handarbeit zu überbrücken, ist für Godard das Filmemachen eine Möglichkeit, geistige Tätigkeit im Handeln zu realisieren und sich damit nicht zuletzt auch eine Identität aufzubauen. Gleichzeitig trägt die fertige Handlung auch dazu bei, anderen bei der Identitätsbildung zu helfen, denn "Man is formed by others." (00:08:13)
Sich wehrend gegen den populären Vorwurf (Politikern wird er sehr gerne gemacht), Reden sei kein Handeln, redet Godard im Wissen wechselseitiger Beeinflussung in jeder Form von Kommunikation. In der Kommunikation fällt Denken und Handeln zusammen. Bloß dort, wo das Denken allein bleibt - nämlich im bloßen Denken - hat Godards versponnene (vielfach zitierte und auch hier anzutreffende) Bemerkung, dass das Ich in "Ich denke" des "Ich denke, also bin ich" nicht das Ich in "also bin ich" ist, seine Berechtigung.

Dass damit auch Film Einfluss auf das Denken im Umfeld nehmen kann, hat Godard explizit ab "Letter to Jane" behauptet und behauptet es auch weiterhin bishin zu "Notre Musique" (2004) - die Filme müssten nur gesehen werden.
Für das Kino fasst Godard diese Auswirkung in zwei Teile: den Teil bis 1945, in dem "cinema was the identity of nations, of peoples (who were more or less organised by nations)" und der Nachkriegszeit: "Cinema is still an art of the western world made by white boys. And when I speak to Anna-Marie, whose family forbade her to see films, except westerns (which she didn't like then and still doesn't like today - even John Ford's films), she has a problem, with all these guys on horseback, all these boys..." (Godard im Gespräch mit Daney, vgl. den Infotext der Artificial Eye DVD-Box)
Dass Agitations- und Revolutionsfilme prägen, steht für Godard sowieso außer Frage.
Interessant ist sein Blick auf den konventionellen Spielfilm. Hitchcock, der auf der Tonspur über Montage spricht, während Ausschnitte aus "Vertigo" (1958), "Psycho" (1960) oder "The Birds" (1962) den ganzen Film durchziehen, ist für Godard "our century's greatest creator of forms" und wird damit zu Godards Musterbeispiel. Hat man auch Handlungen und Schicksale etlicher Figuren wieder vergessen, fehlt einem gar die Pointe usw., so sitzen doch die Bilder der Filme auf ewig in einem, um in asoziativer Rückerinnerung unwillkürlich wieder aufzutauchen, wenn die entsprechenden Signale kommen. (Deshalb denken die meisten Zuschauer auch an das gleiche, wenn es etwa bei Brian de Palma eine Duschszene gibt. Gerade in der Postmoderne funktionieren Spielfilme im Idealfall auf diese Art und Weise.) Insofern ist Hitchcock tatsächlich das gelungen, woran Hitler, Napoleon, Alexander und Caesar scheiterten: "taking control of the universe." (00:14:12)
Aufgrund dieser Möglichkeit der unauslöschbaren Prägung von Millionen von Zuschauern ist Film für Godard ein nicht zu unterschätzendes Mittel der Kommunikation und damit des Handelns - und vor allem: ein Mysterium, wie er immer wieder angibt; und angesichts der Bilder, die in einem auftauchen, wenn er zig der zentralen Hitchcockszenen aneinandermontiert, macht er dieses Mysterium auch erfahrbar.

Eingebettet darin streift er die Manipulationstechniken des Films (von G. A. Smith über Griffith bis Eisenstein etc.) ohne einzelne Vertreter direkt anzusprechen.

Dieser vorletzte Beitrag arbeitet verstärkt mit bisweilen nur schwer verständlichen theoretischen Ansätzen und angedeuteten Querverweisen, unterlegt mit Bildmaterial, das stärker als zuvor mehrfach nur über Umwegen mit der Tonspur zusammenhängt. Die Hitchcock-Sequenzen bilden wohl das Highlight dieser Episode, die daraus gezogenen Schlüsse, die auf die Allmacht des Mediums verweisen, wirken bisweilen ein wenig übetrieben (der Titel deutet es ja bereits an) und stellen im Prinzip auch keine neuartige Erkenntnis dar, rufen nur nochmal bereits Bekanntes zurück ins Gedächtnis. Und aufgrund der extremem Zwischentitellastigkeit dieses Teils, der von allen am exemplarischsten Godards Ästhetik der späten 90er und der Jahrtausendwende aufweist, wirkt er von einigen Höhepunkten abgesehen etwas lebloser als vorangegangene Teile. Gute 6,5/10.



"Histoire(s) du cinéma: Les signes parmi nous"
widmet sich Godard als Abschluss seine Mammutwerkes gleich selbst - und seiner Partnerin (in vielerlei Hinsicht) Anna-Marie Mieville.
Godard fasst dieses letzte Kapitel so zusammen: "A last chapter, 'Les Signes Parmi Nous' (The Signs Among Us) says that if one films a traffic jam in the streets of Paris and one knows how to see it, (not I alone, but Francois Jacob and I), one can discover a vaccine for AIDS." (Vgl. Infotext der Artificial Eye DVD-Box)
In dieser Äußerung klingt freilich Eisensteins Schnitttheorie durch, in welcher ein Drittes entsteht, wenn zwei Bilder (in diesem Fall Intention und Rezeption) aufeinandertreffen. Mit dieser Hoffnung, was den Umgang mit den auf uns einprallenden Filmbildern in der Filmgeschichte betrifft, knüpft Godard an Teil 7 an.

Auf die Kluft zwischen Geschichte und Abbildung kommt Godard hier auch nochmal zu sprechen und erklärt: "I need a day to tell the history of a second. I need an eternity to tell the history of a day." Deshalb ist er - er weist immer wieder darauf hin - auch nicht fähig eine einheitliche Geschichte zu entwerfen, sondern nur eine, die als Mosaik verschiedener Geschichten besteht.
Und angesichts der Möglichkeiten, die der angenommene Eskapismus des Kinos in der Rezeption, im Dialog, in der Konversation liefert, mag auch die reduzierte, entstellte, verspätete Geschichtsschreibung im Kino noch für etwas gut sein.
Zumindest wirkt Godards Ausklang - nicht zuletzt wegen der ruhigen, entspannten Tonspur - trotz trauriger Grundstimmung letztlich sehr versöhnlich, während auf der Bildebene zwischen "Psycho" und "Citizen Kane" (1941), zwischen Western und Musicals, zwischen Chaplin und Max Schreck Dokumentarmaterial und Spielfilmmaterial aus diversen Kriegen abläuft, während Zwischentitel andauernd an Dresden, Hanoi, Sarajevo oder Hiroshima erinnern.

Die im Teil zuvor behauptete Allmacht der Bilder taucht im Verweis auf Hollis Frampton ebenfalls nochmal auf und macht auf die Suche nach einer eigenen Bildsprache des Films aufmerksam, die seit Vertov Regisseure wie Frampton wie Godard ganz bewusst gesucht haben (und im Falle von Godard noch heute suchen) und die noch heute in der Filmtheorie von Bordwell oder Chatman ausgiebig diskutiert wird.

Nach einem letzten Verweis darauf, dass Kino nicht Literatur ist (wobei er als Meister der Zwischentitel zumindest darauf hinweisen könnte, dass sich beides sehr eng annähern kann) und mit Bildern anders wirkt als diese, und nach einem Verweis auf die "Erzählungen aus 1001 Nacht" oder die "Bibliothek von Babel" eines Jorge Luis Borges endet Godard in dem Bewusstsein, dass er und andere noch tausend andere Filme dieser Art drehen könnten und dem Kino doch nicht gerecht werden würden, mit den ihn zum Filmgott stilisierenden Worten: "If a man passed through paradise in his dreams and received a flower as proof of passage, and on waking, found this flower in his hand... What is there to say? I was that man." (00:36:35)

Mit seinem Abschluss ist Godard ein würdiges Ende seiner Reihe gelungen: sehr stimmungsvoll ist dieses Kaleidoskop der Filmgeschichte(n) geworden, ästhetisch wieder komplexer als viele vorherige Teile, auf inhaltlicher Ebene in den Rückgriffen auf Thesen aus den anderen Teilen sehr dicht und insgesamt weitestgehend frei von Polemik u. ä.
7,5/10




Letztlich sollte man bedenken, dass Godard den Stoff aus den "histoire(s)" in Filmen wie "Letter to Jane", "Tout va bien" oder "Notre Musique" sowohl verdichteter als auch verständlicher umgesetzt hat. Die "histoire(s)" sind somit eher ein Werk für Komplettisten oder Liebhaber dieser speziellen Ästhetik des späten Godard.
Eine Kurzversion dieses 265minütigen Projektes hat Godard zudem mit "Moments choisis des histoire(s) du cinéma" (2004) vorgelegt - 84minütig und damit verdaulicher.
Eine interessante Fußnote bietet sicherlich auch seine Geschichte des französischen Kinos "Deux fois cinquante ans de cinéma français" (1995).
Überhaupt ist vieles aus den "histoire(s)" auch in spätere Godards eingeflossen und vieles in den "histoire(s)" kam aus früheren Godards: etwa der Text aus dem Kurzfilm "Je vous salue, Sarajevo" (1993) oder das Bildmaterial in "Notre Musique".

Als Einstiegshilfe sind die "histoire(s)" jedoch wie gesagt vollkommen ungeeignet und ob überhaupt je eine umfassende Hilfestellung zu Godards Bildersturm möglich ist, kann bezweifelt werden. Godard, der beständig darauf hinweist, dass man über Bücher sprechen kann, während man Filme erleben muss, dürfte das bezweifeln - dass man es jedoch versucht, ist ganz in seinem Sinne.

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